Comeback am Meer

Selbsterkenntnis und Glückserfahrung sind zu Handelsware geworden, die im Urlaub wie warme Mahlzeiten dazugebucht werden. Das Meer spielt dabei eine Hauptrolle

Gute Vorsätze werden am liebsten zu Silvester getroffen. Vorhaben, die das eigene Privat- oder Berufsleben und die Gesundheit positiv beeinflussen sollen, lassen sich durch den Jahreswechsel am besten vergegenwärtigen, da dieser Moment das subjektive Gefühl für das Vergangene und das Zukünftige dramatisch zuspitzt. Der Urlaub ist für die meis­ten der zweithäufigste Anlass für neue Vorsätze. Dabei spielt der Blick aufs Meer eine besondere Rolle. Die Weite der Meereslandschaft entfremdet den Menschen von seinen Alltagsstrukturen, die Meeresbewegung lenkt das Bewusstsein ab, sodass die darunterliegenden Gefühle unbemerkt emporgelangen können. Ein Prozess der Selbstreflexion wird in Gang gesetzt, viele Reisende fühlen sich nicht nur entspannter, sondern bei ihrer Rückkehr auch innerlich gestärkt. Wie lässt sich dieser Eindruck erklären? Wie wirkt das Meer auf unsere Gedankenwelt?

Eindrucksvoll beschrieb der Theologe und Philosoph Johann Gottfried Herder im Jahr 1769 seine Selbsterfahrungen auf dem Meer. Das Reisejournal entstand während einer Schifffahrt von Riga nach Frankreich. Zu Anfang spürte er große Unzufriedenheit über sein Leben. Alle bisherigen Ich-Rollen, ob als Gesellschafter, Schullehrer, Bürger oder Autor, gefielen ihm nicht mehr, erzeugten sogar Ekelgefühle.

„Ich musste also reisen“, schrieb er als erstes Fazit, während die Zweifel über seine vergangenen Entscheidungen immer deutlicher wurden. Aber schon kurze Zeit später verfasste er diesen bildmächtigen Eintrag: „ … was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet …“

Herder beschreibt, wie klein und eingeschränkt sein Geist vorher gewesen wäre, wie er auf dem Meer daraus hervortreten sowie seine Bücher und das bisher Gelernte einmal vergessen und durch die neue Aussicht zu neuen Empfindungen gelangen könne. Er, der Naturphilosoph, übertrieb keineswegs. Während seiner Reise hielt er viele Ideen und grundlegende Anschauungen für seine späteren Schriften – ähnlich wie gute Vorsätze – fest. Dazu zählen Überlegungen zur Seelenkonstitution von Kindern, Jugendlichen und Alten, Gedanken über die Einbildungskraft  und den aufkommenden Geniebegriff. Nach seiner Reise würde Herder übrigens mit diesen Erkenntnissen eine ganze Literaturbewegung anstoßen: den Sturm und Drang. Durch den Blick auf  das Meer verlor er für kurze Zeit seine genormte Welt, um sich schließlich eine neue zu schaffen.

Der tote Punkt auf der Erde lässt an einen imaginären Anker denken. Dieser besteht nicht nur aus festgefahrenen Gewohnheiten und Alltäglichkeiten, sondern auch aus der festgefahrenen Selbstwahrnehmung sowie aus dem schwer zu ändernden Bild der Mitmenschen von sich selbst. Die weiten Sphären des Meeres, die den Gedanken Flügel verleiht, bedeuten zunächst geologische Orientierungshindernisse, die zu einer innerlichen Orien­tierungslosigkeit führen. Nur so können die Gedanken in alle Richtungen suchend aufbrechen und die blaue Weite mit inneren ­Bildern bespielen.

Heute würden Herders Ideenblitze auf dem Schiff sachlicher erklärt werden. Der Psychologe Norbert Groeben untersuchte in seiner Arbeit „Kreativität. Originalität diesseits des Genialen“ gedankliche Prozesse zum Problemlösen. Immer voran stehen das Bewusstwerden eines Problems und erste Auseinandersetzungen damit. Auch Herder wird schon vor seinen Einfällen auf dem Schiff über bestimmte Thematiken nachgedacht haben. Danach folge die Inkubationsphase, die meist unterbewusst während einer anderen, nicht intellektuell anstrengenden Tätigkeit stattfindet wie zum Beispiel Hausarbeit oder Sport. Die Fixierung der Gedanken auf ein Problem werde hier ausgehebelt, das Unterbewusstsein kann also breit gefächert assoziieren, um zu ungewöhnlichen und originellen Lösungen zu finden.

Als Ort für eine fruchtbare Inkubationsphase ist das Meer und die Möglichkeit, es zu beobachten, ideal – ob nun spezifische Probleme und Blockaden gelöst werden sollen oder die Selbstreflexion generell als Problemlösen verstanden wird. Die Wellen, ihr Brechen auf Sand oder Fels und die Lichtreflexionen lenken den Geist ab, er ist passiv beschäftigt und kann so die unterbewussten Prozesse nicht direkt be- und verurteilen. Der Mensch kann in dieser Phase also auf Ressourcen zugreifen, die ihm sonst verschlossen blieben. Es entstehen neue Perspektiven, Ideen und eben auch klarere Wünsche.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 117. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 117

No. 117August / September 2016

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol, geboren 1986, promovierte in Kunstwissenschaft und Medientheorie. Sie schreibt als freie Autorin unter anderem für die Zeit und art. 2016 gewann sie den Talentpreis von C/O Das Amerikahaus Berlin in der Kategorie Kunstkritik. Die Rolle des Meeres in der Kunst- und Kulturgeschichte verfolgt sie bis zu seiner heutigen Verwendung in der Werbung und in den sozialen Medien.

Mehr Informationen
Vita Larissa Kikol, geboren 1986, promovierte in Kunstwissenschaft und Medientheorie. Sie schreibt als freie Autorin unter anderem für die Zeit und art. 2016 gewann sie den Talentpreis von C/O Das Amerikahaus Berlin in der Kategorie Kunstkritik. Die Rolle des Meeres in der Kunst- und Kulturgeschichte verfolgt sie bis zu seiner heutigen Verwendung in der Werbung und in den sozialen Medien.
Person Von Larissa Kikol
Vita Larissa Kikol, geboren 1986, promovierte in Kunstwissenschaft und Medientheorie. Sie schreibt als freie Autorin unter anderem für die Zeit und art. 2016 gewann sie den Talentpreis von C/O Das Amerikahaus Berlin in der Kategorie Kunstkritik. Die Rolle des Meeres in der Kunst- und Kulturgeschichte verfolgt sie bis zu seiner heutigen Verwendung in der Werbung und in den sozialen Medien.
Person Von Larissa Kikol