Chinas kleines Sizilien

Portugal übergibt seine Kolonie Macao im Dezember an China. Die Mafia kämpft um ihre Spielhöllen

Hier ist die Küste Chinas ein weißer Streifen Kalk. Die Berge werden von der hungrigen Bauindustrie der Guangdong-Provinz flachgesprengt, um das Material für Beton zu gewinnen. Die Inseln vor der Küste, die in der tückischen Strömung liegen, winzige Niemandslande, könnten auch Buckelwale sein oder Haifischflossen. Macao sitzt darin mit den langen Spinnenarmen zweier kilometerlanger Brücken. Der Guia-Leuchtturm über der Festung blinzelt seit mehr als einem Jahrhundert auf das streifige Brackwasser des Perlflusses...

Macaos Hafenkapitän Jesus Alfonso Estrel da Silva e Costa empfängt mich um 2 Uhr früh, als die Jazz-Band aus Guinea-Bissau eine Pause macht. Nicht, dass sein Dienst ihn zu dieser frühen Stunde zwänge. Aber versuche, einen Kolonialbeamten in seinem Büro aufzustöbern! Der Doctore ist immer „in einer Sitzung“.

Um in Macao einen Beamten zu treffen, muss man wissen, wo der Kaffee am schwärzesten ist. Und der Afro-Jazz-Club öffnet erst um Mitternacht. Macao, seit 442 Jahren portugiesisch, ist heute portugiesischer als das EU-Portugal: eine Enklave lusitanischer Lebensart am Ufer der Südchinesischen See. Die Advogados, die Anwälte, tragen schwarze Maßanzüge und sehen aus, als wären sie Doppelgänger des Dichters Pessoa. Die Beamten, die im Luxus des Übersee-Territoriums leben, leiden an Endzeitstimmung. Mit diesem Jahrtausend endet die portugiesische Herrschaft hier, und so versuchen sie alle, das Leben schneller zu genießen, wie Kettenraucher, die wissen, dass bald ein generelles Rauchverbot eingeführt wird.

Auf dem Sportplatz vor dem Lisboa-Hotel fanden noch im letzten Jahr die einzigen Stierkämpfe des Fernen Ostens statt, in ihrer portugiesischen milden Art, bei der die Stiere nicht abgestochen, sondern nach dem Sieg des Matadors abgeführt und geschlachtet werden. Amerikanische Tier-Rechtler aus dem benachbarten Hongkong schritten ein, und so ist diese Tradition bereits jetzt verschwunden. Noch gibt es jede Samstagnacht unter Flutlicht die Windhundrennen.

Die Priester tragen weiße Tropen-Soutanen. Der berühmte Father Lancelot, ein weißhaariger achtzigjähriger Jesuit, beweist auf jedem Wohltätigkeitsball, dass „Gott fröhlich ist“, wenn er zur Gitarre spielt oder die Polonaise der Beamtenfrauen anführt.

„Kneif die Augen zusammen“, erklärt Jesus Alfonso, „da oben am Camões-Stein“, wo der Legende nach Luís de Camões, der steifbeinige Dichterfürst und alte Kriegsmann aus der Seeschlacht von Lepanto, seine Lusiaden verfasst haben soll, Portugals bedeutendstes Epos.

„Blick auf den Hafen im Mund des Perlflusses!“, fährt Jesus fort. Wir haben uns mittlerweile von den kichernden Guinea-Rhythmen entfernt in die „Caserola“, die „Bratpfanne“, wo wir eine gegrillte Blutwurst verspeisen, so groß wie ein Pferdepenis. „Kneif die Augen zusammen. Dann siehst du den Hafen, so wie er damals aussah!“ Segelschiffe aus Malakka, aus Goa, von den Molukken. Opium-Karavellen nach Kanton, Tee-Klipper nach Timor. Galeonen aus Lissabon, Kanonen und Missionare an Deck. China-Dschunken, die getrockneten Fisch schippern. Lorchas, die Frachtsegler der Region, mit so hohem Heck, dass es Ya Pi Ku, „Entenarsch“, genannt wird.

Heute sind es Fischtrawler, Leichter, die Kalk und Zement bringen, Tankboote und die Jactoplanadores oder Jetfoils, Tragflügelboote, die nach China und Hongkong zischen. Ich vermute – wir sind mittlerweile beim tintigen 97er Redondo –, dass Jesus’ Tätigkeit als Hafenkapitän vor allem darin besteht, die Augen zuzukneifen.

Der alte Seestützpunkt Macao, Festung für das portugiesische Seereich, ist ja heute nur noch ein kleiner rostender Provinzhafen. Die Container-Riesen auf dem Weg von Rotterdam nach Kobe gehen vorbei nach Hongkong. Was bleibt, ist Stückgut hinauf nach Kanton und Hongkong. Schmuggelware raus aus China, rein nach China: antike Porzellane, Zigaretten, Haschisch, Computer, Bibeln. Ab und zu ein Raketenbauteil auf dem Weg nach Nordkorea. Drüben, die Neubauten, das ist die Volksrepublik China. In der Mitte des Stromes fährt ein Patrouillenboot auf und ab. Fischerkähne pendeln zwischen den Systemen: kleiner Grenzverkehr.

Ich bin dann diesen Morgen, den Kopf vernebelt vom Aguardente, dem Zuckerrohrschnaps, die Knie weich, tatsächlich hinauf zu Camões gestiegen, durch den Park, in dem die Bäume Bärte haben, dunkelgrüne chinesische Fadenbärte. Ihre Wurzeln benutzen die Banyan-Bäume nur, um sich im Felsen festzukrallen; sie trinken aus dem nassen Wind. Alte Männer führen Singvögel in Bambuskäfigen spazieren.

Ein Zipfel vom hammerschlag-blauen Meer ist zu sehen. Hier haben die heimwehkranken Senhores gesessen, auf die See gestarrt und auf die uralten Nachrichten aus der Heimat gewartet: Erdbeben in Lissabon, Brand in der Altstadt, Tod des Infanten, Tod des Diktators.

Hinter der eleganten Villa im Palladio-Stil, einst ein Sitz der mächtigen Ostindischen Compagnie, liegen Abenteurer und Weltensegler begraben. Hier flüstern die Steine von Leid und Fieber in Fernost: „George H. Dungan, May 9th, 1857, 29 years of age – The port is reached, the sails are furled“, „Hier legt begraaven Gottlieb Meeseburg, in Leven Supergarga in den Chinesenhandel wegens de Nederloi Com-pagnie, geboren in Maagdenburg 1734, overleven te Macao 6 Julij 1767“, „Erected in the memory of Aler Alleson, apprentice boy of The Pennington, who died ashore of this port 1. Jan. 1861 through the effects of a fall into the bold“ – vielleicht also, weil er zu mutig war?, „R. V. Warren, aged 22, who was murdered on board the Schooner Kappa by Chinese whilst on her way to Whampoa from Macao in the night of 29. Oct. 1844“, „Dem Staube des F. W. Schnitgers geboren zu Pleuhn in Holstein 31 May 1773 nach vielen Leiden in Macao gestorben 30 May 1807“...

Ich flüchte ins Leben. Macao ist ja keineswegs eine Toteninsel. Die Stadt ist Teil der Guangdong-Provinz, und die ist das Sizilien Chinas. Das heißt, das Leben ist hier ein Straßentheater, quirlig, lärmend, gewalttätig und witzig. Die Friseure üben ihr Handwerk auf der Straße aus, im Schatten sitzen Wahrsager und lesen zerknitterten Mütterchen aus der Hand. Es mieft nach Stockfisch, Durian – Baumsamen, der auch „Stinkfrucht“ genannt wird – und Kampfer. Auf einem Hinterhof üben die Jungen mit Gongs und Zymbeln den Drachentanz. Die schwarzen Limousinen der Gangsterbosse halten höflich an den Zebrastreifen.


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Stefan Reisner und Bob Davis

Stefan Reisner, Jahrgang 1942, ist freier Journalist und lebt seit 1988 in Hongkong. In mare No. 7 schrieb er über Piraterie in der Südchinesischen See.

Bob Davis, Jahrgang 1944, ist Australier und arbeitet als freier Fotograf in Hongkong. Dort gründete er 1979 The Stock House, die erste internationale Fotoagentur Asiens. Dies ist seine erste Arbeit für mare

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Vita Stefan Reisner, Jahrgang 1942, ist freier Journalist und lebt seit 1988 in Hongkong. In mare No. 7 schrieb er über Piraterie in der Südchinesischen See.

Bob Davis, Jahrgang 1944, ist Australier und arbeitet als freier Fotograf in Hongkong. Dort gründete er 1979 The Stock House, die erste internationale Fotoagentur Asiens. Dies ist seine erste Arbeit für mare
Person Von Stefan Reisner und Bob Davis
Vita Stefan Reisner, Jahrgang 1942, ist freier Journalist und lebt seit 1988 in Hongkong. In mare No. 7 schrieb er über Piraterie in der Südchinesischen See.

Bob Davis, Jahrgang 1944, ist Australier und arbeitet als freier Fotograf in Hongkong. Dort gründete er 1979 The Stock House, die erste internationale Fotoagentur Asiens. Dies ist seine erste Arbeit für mare
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