Chaldej – der Fotograf der Roten Flotte

Das Bild der Rotarmisten auf dem Reichstag wurde in aller Welt bekannt, der Fotograf blieb lange vergessen. Jewgeni Chaldej dokumentierte den Alltag der sowjetischen Marine

Sein berühmtestes Foto ist eine Ikone des Zweiten Weltkriegs: Soldaten hissen die rote Fahne auf dem Reichstag in Berlin. Der, der es machte, war lange vergessen: Jewgeni Chaldej, Leutnant der sowjetischen Marine und Fotograf an der Front vom ersten bis zum letzten Tag des Krieges. Zwei Jahre war er bei der Nordmeerflotte in Murmansk, ein Jahr bei der Schwarzmeerflotte im Süden. Erst das letzte Kriegsjahr verbrachte er an Land und wurde zum Chronist des Vormarschs der Roten Armee. Doch auch nach dem Krieg blieb er dem Meer in seinem Werk verbunden. Einige der hier gezeigten Bilder hat man im Westen noch nie gesehen.

Als die Sowjetunion 1989 aufhörte zu existieren, lebte Jewgeni Chaldej von umgerechnet 35 Euro monatlicher Rente in einer Einzimmerwohnung im siebten Stock eines hässlichen Hochhauses in der Oneschskaja-Straße in Moskau. Doch trotz der ärmlichen Verhältnisse waren diese 50 Quadratmeter wohl mit die interessantesten in ganz Moskau: voller Geschichte und Geschichten, die Chaldej bildhaft erzählte. Statt eines Wohnzimmerschranks schmückte ein Karteischrank das Zimmer. In jedem Schubfach befanden sich Briefumschläge mit aufgeklebten Kontaktabzügen, dazugehörigen Bildlegenden und natürlich dem Wichtigsten: den Negativen. Die Wände zierten alte Abzüge seiner Werke. Zwei Vergrößerer hielten eine weitere Wand besetzt. Dazwischen, fast wie ein Fremdkörper: das Bett.

Chaldej lebte auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs. Die Qualität seiner Bilder konnte diesen zwar durchdringen, doch die Verknüpfung zu seinem Namen ging verloren. Während einige Kollegen von damals wie etwa Robert Capa später hoch geschätzt und mit Büchern und Ausstellungen geehrt wurden, war Chaldej im Westen weitgehend unbekannt.

Als Chaldej 1992 zum ersten Mal unser Büro in Berlin betrat, war er 75 Jahre alt. Er kam auf Einladung meines Partners Ernst Volland, der Chaldej in Moskau kennengelernt hatte, nach Berlin. Wir setzten uns an unseren größten Tisch, und er holte aus seinem Koffer eine große Pappschachtel voller Fotografien. Es war der Beginn einer engen, jahrelangen Zusammenarbeit, die mit seinem Tod am 6. Oktober 1997 ein trauriges Ende fand.

Was Ernst Volland, mich und später auch alle, die ihn noch bei Pressekonferenzen und Ausstellungen erleben konnten, sofort faszinierte, war die Gabe, seinen Fotografien mit Geschichten neues Leben einzuhauchen. Jewgeni besaß ein phänomenales Gedächtnis. Zu jedem Foto kannte er die Namen der abgebildeten Personen, den Ort, das Jahr und die Umstände der Entstehung. Er redete frei und gerne auch zwei Stunden am Stück. Und er hatte Humor. Trotz des traurigen Themas schaffte er es immer wieder, seine Zuhörer zum Lachen zu bringen, dem Wahnsinn eine komische Seite abzugewinnen. Dieses Wissen wollten wir erhalten, und so zeichneten wir all seine Erzählungen zu seinen Bildern auf.

Fotograf war er mit Leib und Seele. Seine kleine Wohnung in Moskau war im Grunde keine Wohnung, vielmehr war es Archiv und Dunkelkammer mit Bett. Wie jeder Fotograf hütete er seine Negative wie seine Augäpfel. So lange er konnte, printete er noch selbst. Erst in den letzten Jahren nahm er Hilfe in Anspruch. Blende und Belichtungszeit wusste er zu jedem Negativ auswendig. Jewgeni Chaldej war kein fotografischer Purist. Wenn er eine Möglichkeit sah, die Aussage eines Bildes durch nachträgliche Manipulation zu steigern, dann tat er dies auch. Seine Absicht war es nie, die ursprüngliche Bildinformation zu verändern, nur, den Symbolgehalt des Bildes zu erhöhen.

Er arbeitete mit verschiedenen Methoden der Montage. Oft tauschte er den Himmel aus. Hierfür hatte er stets mehrere Himmel-Negative mit dramatischen Wolkenformationen parat. Dunkle Wolken passten nach seinem Verständnis besser zu Krieg und Zerstörung als Quellwolken und konnten die dramatische Wirkung eines Bildes erheblich steigern. Montagen waren in den zwanziger und dreißiger Jahren Techniken der Avantgarde. Es ist jedoch unklar, inwieweit Chaldej ähnliche Arbeiten kannte. In der Geisteswelt des Stalinismus hatten Avantgardisten außer im Gulag keinen Platz.

Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit bis 1948 waren Chaldejs bestimmende Themen. Hier erfüllte er seinen eigenen Anspruch an seine Arbeit unter schwierigsten Bedingungen. Von 1951 an dokumentierte er die Zeit des Friedens. Mitte der Sechziger begann er ehemalige Kriegsteilnehmer, die er fotografiert hatte, zu suchen, um sie erneut zu porträtieren. Er nannte die Serie „Helden“. Der Krieg hatte ihn wieder eingeholt.

Am 22. Juni 1941 startete Adolf Hitler den Angriff auf die Sowjetunion. Stalin schlief in seiner Datscha, als deutsche Truppen auf der gesamten Westfront vorrückten und die Städte Minsk, Kiew und Sewastopol bombardierten. Innerhalb weniger Wochen entstand eine Frontlinie von einzig-artiger Länge, begrenzt von zwei Küstenlinien: der des Weißen Meeres im Norden und der des Schwarzen Meeres im Süden. An beiden Meeren sollte Jewgeni Chaldej die meisten seiner mehr als 1000 Kriegstage verbringen.


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mare No. 70

No. 70Oktober / November 2008

Von Heinz Krimmer

Heinz Krimmer, 48, Fotograf und Journalist, hat mit seinem Partner Ernst Volland mehrere Chaldej-Ausstellungen kuratiert, zuletzt die erste Retrospektive des Gesamtwerks im Berliner Martin-Gropius-Bau. Krimmer und Volland sind auch die Herausgeber des Buches Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick, erschienen 2008 im Neuen Europa Verlag.

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Vita Heinz Krimmer, 48, Fotograf und Journalist, hat mit seinem Partner Ernst Volland mehrere Chaldej-Ausstellungen kuratiert, zuletzt die erste Retrospektive des Gesamtwerks im Berliner Martin-Gropius-Bau. Krimmer und Volland sind auch die Herausgeber des Buches Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick, erschienen 2008 im Neuen Europa Verlag.
Person Von Heinz Krimmer
Vita Heinz Krimmer, 48, Fotograf und Journalist, hat mit seinem Partner Ernst Volland mehrere Chaldej-Ausstellungen kuratiert, zuletzt die erste Retrospektive des Gesamtwerks im Berliner Martin-Gropius-Bau. Krimmer und Volland sind auch die Herausgeber des Buches Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick, erschienen 2008 im Neuen Europa Verlag.
Person Von Heinz Krimmer