Bye-bye, Eel Pie

Londons traditionsreiche Aalrestaurants sind der letzte Hort der einst selbstbewussten Arbeiterschicht

Ein dunkler, lastender Himmel voller REGEN hängt über dem Hinterhof von „F. Cooke’s Pie and Mash Shop“, einem Imbissladen in der Hoxton Street. In der Umgebung ragen Sozialbauten auf, wir befinden uns in der Pufferzone zwischen dem östlichen Teil von Hackney und den sagenhaften Reichtümern der Londoner City.

Joe Cooke, ein großer und kräftiger Mann, greift mit den Händen nach Aalen in einem Kunststoffbehälter, in dem es brodelt und wimmelt. Nachdem er die glitschige Beute in einen Eimer befördert hat, wendet er sich einem langen Messer zu, das er mit einem Wetzstahl schärft. Dann trennt er einem Aal den Kopf ab, schlitzt mit sicheren Bewegungen den Bauch auf und blickt auf die bläulich-schwarz irisierende Haut. „Ich habe das schon als Kind gemacht, am Stand meines Vaters“, sagt Joe, 66 Jahre alt. „Wunderschöne Tiere, finden Sie nicht?“

Der Verzehr von Aalen ist eng mit der Geschichte Londons verknüpft, und man kann seinen Niedergang als Sinnbild für die sich verändernde Kultur der Hauptstadt sehen. In den letzten 30 Jahren sind die einst allgegenwärtigen Mash, Pie and Eel Shops größtenteils von der Bildfläche verschwunden, und im selben Zeitraum ist die Zahl der Europäischen Aale laut der Weltnaturschutzunion um 95 Prozent zurückgegangen.

Obwohl der Aal ganz London ernährt hat, sind genauere Kenntnisse über ihn heute immer noch nicht verbreitet. Erst im Jahr 1922, als ein dänischer Biologe namens Ernst Johannes Schmidt in der Royal Society in London auftrat und seinen Aufsatz „Die Laichgebiete des Aals“ vortrug, bekam man einen besseren Eindruck. Was in der Folge als „Schmidts Theorie“ bekannt wurde, beendete ein jahrhundertelanges Rätselraten über dieses Lebewesen. Schmidt machte die erstaunliche Entdeckung, dass der Europäische wie auch der Amerikanische Aal (Anguilla anguilla und Anguilla rostrata) zum Laichen in die ferne Sargassosee vor Florida wandern.

Der genaue Vorgang und der exakte Ort sind bis heute unbekannt, sicher ist jedoch, dass die Larven mit dem Golfstrom nach Nordwesten treiben und im Winter das südliche Europa erreichen. Im Frühsommer werden sie dann, nach einer rund dreijährigen Reise, an Nordeuropas Küsten getrieben. Dort verwandeln sie sich in Glasaale, die über die Flüsse ins Binnenland wandern. Die erwachsenen Aale treten dann die lange Wanderung zurück in die Sargassosee an, wo sie schließlich laichen und sterben.

Joe Pecorelli, Projektmanager des „Programms zur Beobachtung der Aale in der Themse“, sagt auf die Frage nach den Ursachen für das Schwinden der Bestände: „Wir nehmen an, dass es eine Reihe von Faktoren gibt. Aber wir wissen es nicht genau.“ Immerhin ist bekannt, dass in den Flüssen Hindernisse wie Stauwehre, Hochwasserschutzanlagen und Wasserpumpen eine der Ursachen sind, ebenso ein Parasit, der die Schwimmblase befällt. Umweltverschmutzung und globale Erwärmung tragen auch dazu bei, außerdem illegale Ausfuhren in den asiatischen Markt, wo er hohe Preise erzielt. Ein weiteres Problem ist das Kokain, das von Konsumenten über den Urin in die Gewässer Londons gelangt und dort den Aalen zusetzt. „Der Niedergang ist wirklich dramatisch“, sagt Pecorelli.

Cookes Imbissladen ist einer der letzten Paläste für Aale, Pasteten und Kartoffelstampf, einst die Grundnahrung der ärmeren Schichten Londons. Holzbänke, weiß geflieste Wände, Sägemehl auf dem Fußboden. Ein altes Radio spielt Dire Straits, der Regen prasselt gegen die Scheiben. Joe Cooke hat das Schlachten beendet und erscheint mit einem großen Becher Tee. Bald, um die Mittagszeit, wird das Hauptgeschäft beginnen. Johnnie, ein geduldiger, spindeldürrer Bäcker mit selbst gemachten Tattoos an den sehnigen Armen, trägt einen Eimer mit frisch pürierten Kartoffeln zu einer Anrichte. Bald wird eine Prozession von älteren Ladys und stämmigen jungen Männern mit rasierten Köpfen eintrudeln und nach Essen verlangen.

„Johnnie? Ein klasse Typ“, sagt Joe mit spürbarer Zuneigung. „Sehr gutmütig und zuverlässig, arbeitet seit mehr als 30 Jahren bei mir. Wurde eines Tages vom Arbeitsamt geschickt und ist seitdem geblieben.“ Eine markante Pause. „Es gab kleine Unterbrechungen, immer wenn er im Kittchen saß. Brixton, The Scrubs … er war praktisch schon in jedem beschissenen Londoner Knast.“ Johnnie lächelt schüchtern, sagt nichts dazu und macht seelenruhig weiter.

Der Aal war bei den Einwohnern Londons, einer von der Themse beherrschten und geteilten Stadt, aus dem einfachen Grund so beliebt, weil er in großen Mengen verfügbar und billig war. Und während Fleisch und andere Fische zum größten Teil mit Salz haltbar gemacht werden mussten, konnte man Aale über längere Zeit lebend in Wasserbehältern halten.


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mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Stuart Freedman

Stuart Freedman, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freier Fotograf und Autor in London. Er ist im East End der siebziger Jahre aufgewachsen, als in der Gegend billige Cafés, raue Kneipen und Eel and Pie Shops dominierten. Nachdem Freedman viele Jahre fort war, um aus der weiten Welt zu berichten, kehrte er zu seinen Wurzeln zurück und begann sein Projekt über die Londoner Aalläden. Er mag Aale, ganz gleich, ob gedünstet, in Sülze eingelegt oder der japanischen Version Unagi, isst sie aber, wie er betont, äußerst selten, weil sie bedroht sind.

Aus dem Englischen von Andreas Gressmann

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Vita Stuart Freedman, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freier Fotograf und Autor in London. Er ist im East End der siebziger Jahre aufgewachsen, als in der Gegend billige Cafés, raue Kneipen und Eel and Pie Shops dominierten. Nachdem Freedman viele Jahre fort war, um aus der weiten Welt zu berichten, kehrte er zu seinen Wurzeln zurück und begann sein Projekt über die Londoner Aalläden. Er mag Aale, ganz gleich, ob gedünstet, in Sülze eingelegt oder der japanischen Version Unagi, isst sie aber, wie er betont, äußerst selten, weil sie bedroht sind.

Aus dem Englischen von Andreas Gressmann
Person Von Stuart Freedman
Vita Stuart Freedman, Jahrgang 1967, lebt und arbeitet als freier Fotograf und Autor in London. Er ist im East End der siebziger Jahre aufgewachsen, als in der Gegend billige Cafés, raue Kneipen und Eel and Pie Shops dominierten. Nachdem Freedman viele Jahre fort war, um aus der weiten Welt zu berichten, kehrte er zu seinen Wurzeln zurück und begann sein Projekt über die Londoner Aalläden. Er mag Aale, ganz gleich, ob gedünstet, in Sülze eingelegt oder der japanischen Version Unagi, isst sie aber, wie er betont, äußerst selten, weil sie bedroht sind.

Aus dem Englischen von Andreas Gressmann
Person Von Stuart Freedman