In Badelatschen und Bermudashorts schlappen die beiden über die Gangway in den nächtlichen Nieselregen, hinab auf die Pier. Am Horizont Buenos Aires. Ein Komet, dessen Schweif aus unzähligen Straßenlampen einen weiten Bogen zieht, bis er sich kurz vor der Hafenanlage verliert. Leuchtender Pfad zu den Cafés und Avenidas, zum grellen Leben, das sich in der Entfernung lautlos zu einem Licht mischt.
Zu fern für die Seeleute, deren Wache in drei Stunden beginnt. Und so werden Jun und Jimmy von Argentiniens Hauptstadt diesmal nicht mehr erleben als die Kneipe der Hafenarbeiter, gleich hinter der Wache des Containerterminals. Nachdem sie dem Posten, an dem Gummiknüppel und Revolver baumeln, ihren Landgangpass vorgezeigt haben, schlurfen sie an einem grobgezimmerten Bretterverschlag vorbei, in eine Hütte aus unverputzten Steinen: drei mal drei Meter, ein Dach aus Wellblech, auf das der Regen tropft. Es ist schwül. Ein paar Stauer, die schmierigen roten Overalls bis über den Bauch abgestreift, trinken Bier aus Ein-Liter-Flaschen. Kinder in Windeln laufen über den Steinboden und, abgetrennt durch eine Sperrholztür, das Pissoir, wo man zwischen der Wäsche der Hausfrau und dem Rasierpinsel des Kneipenwirtes in ein weißes Porzellanbecken pinkelt. Alles blitzblank, Geruch von Scheuerpulver.
Der Wirt stellt zwei Flaschen vor die beiden Filipinos, die hier fremd wirken. Zum Bier bestellen sie eine Platte frittiertes Fleisch, das sie wenig später mit der Hand in den Mund schieben. Ein Zwei-Zentner-Kerl mit einem Kinn wie Kater Karlo spricht sie an. Ob sie von der „Libra New York“ sind und ob das stimmt, mit dem Stowaway. Alle reden darüber. Was ist dran an der Geschichte mit dem Blinden Passagier? Jun und Jimmy antworten in gebrochenem Spanisch. Tatsächlich schleppt die „Libra New York“ einen jungen Iraker mit sich herum, der sich in Brasilien heimlich an Bord schlich, und den nun kein Land aufnehmen will.
Vor rund einem Monat, am 2. März, hat ihn einer von der Deckscrew zwischen den Containern entdeckt, stinkend und kein Wort Englisch sprechend. Schließlich fanden sie auch seine im Schiffskran versteckten Papiere. Salim Sahib, Mohsou stand darin – auf seinem rechten Oberarm hat er ein „M“ tätowiert. In Brasilien soll er sich in einer Fabrik verdingt haben. Aber „zu viele Alibabas“, zu viele Räuber, darum sei er geflüchtet, ob er nicht auf dem Schiff arbeiten könne? Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Der Kapitän sperrte ihn in eine Lotsenkabine. Da hockt der Flüchtling noch immer; der Maschinist hat ein Gitter vor das Bullauge geschweißt, und dreimal am Tag schiebt ihm einer von der Besatzung sein Essen durch die Tür. „Das“, so der Kapitän, „hatte er in Rio sicher nicht.“ Und während die UN-Flüchtlingskommission mit dem brasilianischen Staat verhandelt, flucht der Schiffsführer über den ungebetenen Gast, den er jedem Hafen melden muss, bevor er einlaufen darf.
Die Hafenarbeiter würden ihn einfach über die Reling schmeißen. Alle lachen, aber Jun und Jimmy wissen, dass an Bord der „Libra New York“ Recht und Gesetz gelten, und sind froh, dass sie nicht auf einem griechischen Dampfer angeheuert haben, wo andere Sitten herrschen. Ihr Schiff hat einen deutschen Master und gehört einer Hamburger Reederei, auch wenn es aus Steuergründen unter zypriotischer Flagge fährt. Cowboy-Cäpt’n nennen sie den Master, weil er cool ist, sie respektiert und auch mal zuhört, wenn es Probleme gibt. Sie wissen, was er von ihnen erwartet: dass sie ordentlich ihre Arbeit tun, die im wesentlichen aus Rostklopfen, Anstreichen und Wachegehen besteht. Manchmal schimpft er, aber er betrügt sie nicht, indem er auf die Bordpreise von Zigaretten und Zahnpasta einen Aufschlag erhebt, der in seine eigene Tasche fließt, was auf anderen Schiffen durchaus vorkommen soll.
Die Stimmung zwischen den betrunkenen Stauern und den beiden philippinischen Decksleuten, unterstes Glied in der Schiffscrew, aber hier doch irgendwie bessere Wesen, schwankt. Anzügliche Bemerkungen – „rutsch doch mal rüber, mein Kumpel steht auf Boys“ –, die Jun und Jimmy ignorieren. Sie haben von der Welt mehr erlebt, als die Hafenarbeiter je sehen werden. Als Boten fremder Kontinente respektiert man sie und mag sie doch nicht, klein, mit den schmalen dunklen Augen unter dem pechschwarzen Haar, scheinbar immer vergnügt; eine deutsche Hure würde nicht mit ihnen aufs Zimmer gehen.
Als Jun und Jimmy wieder im orangefarbenen Scheinwerferlicht des Terminals auftauchen, angeln die Kräne noch immer Container aus dem Schiffsbauch. In die ansonsten stille Nacht schrillt das orgelnde Warnsignal der Gentry-Anlage, wenn die Stahlkisten drohend in der Luft baumeln, bevor der Haken sich über den Lastern endlich löst, um sich gleich darauf wieder über den geöffneten Leib des Schiffes zu beugen, den nächsten Container anpickend. Bis sich das Spiel dreht, und endlich neue Ladung im Inneren des Schiffes Platz findet. Über Nacht stapelt sie sich auf dem Deck so hoch, dass Jun am nächsten Morgen nicht mehr aus seiner Kabine schauen kann.
Gegen Mittag macht der erste Schlepper am Bug des Schiffes fest. Buenos Aires war letzter Hafen, Wendepunkt, jetzt geht es zurück, über den Äquator nach Nordamerika, vom Herbst der südlichen Erdkugel in den Frühling der nördlichen Hälfte – bis rauf nach New York und dann wieder südwärts und so fort; dann aber ohne Jun, der nach elf Monaten seinen Kontrakt abgearbeitet hat. Er wird endlich nach Hause fliegen, zu seiner Familie und zu seinem Wrangler-Jeep, mit dem er gerne den Strand entlang saust. 600 Dollar monatliche Heuer plus Überstunden machen ihn auf den Philippinen zum Helden. Bis er wieder fort muss, Geld verdienen. Doch bis dahin ist es noch lange hin; viele Häfen und endlose Wachen auf See, an die Jun besser nicht denkt, während er die Festmacherleinen auf dem Vorschiff auslegt.
Die Schlepper haben den 170 Meter langen Frachter um neunzig Grad gedreht; aus dem Hafenbecken heraus steuert er auf den Rio de la Plata zu. Dann geben ihn die Schlepper frei. Der Lotse gibt den Kurs vor. Jimmy, jetzt ganz konzentrierter Rudergänger, bestätigt: „Zero – six – five, Sir!“ Die Sonne im Rücken, schieben sich 7642 Tonnen Schiff und fast noch einmal soviel Ladung durch das braune Wasser. Ein grauer Koloss, in einem Meer aus Café au Lait, den Schaum schlägt die Bugwelle. An Deck rostrot das Containermassiv, darüber blassblauer Himmel. Windstärke drei und 130 Seemeilen bis Montevideo.
Zehn Stunden später ist alles pechschwarz und die Hafenpier besetzt. Kein Landgang heute, die „Libra New York“ muß draußen auf Reede gehen. Der Kapitän dreht den Schiffsbug in die Strömung und gibt per Knopfdruck den Anker frei. 80 Meter Eisenkette rasseln in die Tiefe. Das war’s. Der Kapitän trägt die Position auf der Seekarte ein. Still dümpelt das Schiff im Schwell.
In der Mannschaftsmesse läuft der Videorecorder. Die Offiziersmesse liegt wie verwaist. Abwärts vom Master stammen alle, mit Ausnahme des Elektrikers, von den Philippinen. Auch wenn es den Offizieren zukommt, an der weißen Stofftischdecke nebenan zu essen, hocken sie doch lieber mit ihren Landsleuten zusammen – vor sich einen Berg Reis, über den sie Fischsauce tröpfeln, und einen Teller geschmorter Hühnerfüße. Geschäftiges Schmatzen, unterbrochen von Signalen aus dem Maschinenraum. Dann geht der Chief rüber zur Konsole, drückt einen Knopf, und das Blinken erlischt.
Am nächsten Abend haben sie sich feingemacht. Duft von Rasierwasser erfüllt den Schiffsaufgang. Jun hat sich eine Stunde Freiwache von seinem Kumpel Toto geliehen. Mit dem kleinen dicken Decksmann Ernie an der Spitze, weil er sich hier auskennt, bricht der kleine Trupp in die Altstadt von Montevideo auf – die „Lovedisco“, einen Club mit nettem weiblichem Personal, als Ziel. Doch als Ernie, Jimmy, Jun, der Bootsmann Edgar und ihr Zweiter Offizier Estelito vor der Eingangstür ankommen, finden sie nur eine einsame Hure auf den Steinstufen vor. Gegenüber läuft ein evangelischer Gottesdienst. Kinder hüpfen auf einer illuminierten Bühne, während die Älteren zur Musik klatschen. „God bless you“, sagt der gottgläubige Security-Mann zum abgeirrten Bootsmann auf dem Bürgersteig und drückt ihm die Hand. Das Mädchen, es heißt Adriana, verspricht, den Trupp zum Haus der Señoritas zu bringen.
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Roland Brockmann fuhr selber in seiner Jugend zur See. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin, seine Fahrt auf der „Libra New York“ dauerte vier Wochen.
Das Containerschiff „Libra New York“ gehört der Hamburger Reederei Peter Döhle Schiffahrts KG. An Bord befinden sich zwei geräumige Zweibettkabinen für Passagiere sowie ein Salon.
Vita | Roland Brockmann fuhr selber in seiner Jugend zur See. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin, seine Fahrt auf der „Libra New York“ dauerte vier Wochen.
Das Containerschiff „Libra New York“ gehört der Hamburger Reederei Peter Döhle Schiffahrts KG. An Bord befinden sich zwei geräumige Zweibettkabinen für Passagiere sowie ein Salon. |
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Person | Von Roland Brockmann |
Vita | Roland Brockmann fuhr selber in seiner Jugend zur See. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin, seine Fahrt auf der „Libra New York“ dauerte vier Wochen.
Das Containerschiff „Libra New York“ gehört der Hamburger Reederei Peter Döhle Schiffahrts KG. An Bord befinden sich zwei geräumige Zweibettkabinen für Passagiere sowie ein Salon. |
Person | Von Roland Brockmann |