Buddhas Vitamintablette

Seegurken können Kidnapping und Aufstände auslösen. Andererseits helfen sie gegen Kropf und Haarausfall

Mitteleuropäer wissen nur selten um die Existenz der Seegurke. Sie haben sich im Urlaub beim Schnorcheln vielleicht über ein merkwürdiges Ding gewundert, das manchmal zu Dutzenden regungslos auf dem sandigen Boden liegt. Wie eine aufgeblasene Salami sieht sie aus, mal dicker, mal dünner, mal mit, mal ohne Noppen oder Pickel auf der Haut. Vielleicht sind Urlauber mal im seichten Wasser aus Versehen draufgetreten und zusammengezuckt. Sie fühlt sich gummiartig und glitschig an, obwohl sie wie der Seeigel in die Klasse der Stachelhäuter gehört. Ihr walzen- bis gurkenförmiger, manchmal wurmförmiger Körper ist von einer dicken, lederartigen Haut umhüllt, in die kleine Kalkplättchen eingebettet sind – Reminiszenz an ihre Stachelhäuterzugehörigkeit. Die größte Art, Isostychopus badonotus im Golf von Mexiko, wird bis zu 1 Meter 30 lang. Die kleinste, Rhabdomolgus ruber in der Nordsee, mißt ganze zehn Millimeter. Die Seegurke bewohnt alle Meeresgebiete von der Hochsee bis zu den Küstenfelsen, von der Oberfläche bis in große Tiefen. Sie verschmäht weder Korallenriffe noch Sand- und Schlickböden. Und etwa 50 der insgesamt 1100 lebenden Arten sind essbar.

Bêche de Mer, wörtlich: Meereswurm, nennen die Franzosen die im Mittelmeer beheimatete Röhren-Holothurie. Als Bicha de Mar taucht sie auf spanischen Speisekarten auf. Südeuropäern gilt sie als Delikatesse, in unseren Breiten hat sie noch kaum kommerzielle Bedeutung. Als der spanische Drei-Sterne-Koch Ferran Adrià im Fachblatt „Der Feinschmecker“ seine Spezialität „Seegurken mit Lammhirn, Chicoree und Steinpilzen“ vorstellte, verblüffte er die deutschen Gourmets mit einem Rezept, in dem nur die Filamente, also das Innere der Seegurke, verbraten wurden. Neugierige, die das exzentrische Gericht nachkochen wollten, stießen bereits beim Einkauf auf Hindernisse. In frischer Form sind Seegurken so gut wie nicht erhältlich und wenn, dann sehr teuer, weil sie aus Neuseeland eingeflogen werden. Denn aus dem Mittelmeerraum konnte niemand die Nachfrage befriedigen. Soweit zur Seegurkenlage in Europa.

Herr Poon Kuen Fai kann darüber milde lächeln. Er leitet sein Familienunternehmen On Kee Dry Seafood in Hongkong. Die Firma importiert jährlich etwa neun Tonnen getrocknete Seegurken und beliefert damit die feinsten chinesischen Restaurants der ehemaligen Kronkolonie – kaum eine Küche aus dem Reich der Mitte, in der keine Seegurken verarbeitet werden. Bei Essen zu besonderen Anlässen gehören sie in der Regel dazu, mal als Beilage wie in der kantonesischen, mal als ein Hauptbestandteil des Mahls wie in der Sichuan-, der Hunan- oder Fujian-Küche.

Stacheln zeigen Qualität

Aus der Provinz Fujian, an der Küste der Volksrepublik gegenüber Taiwan gelegen, stammt eines der berühmtesten Gerichte: „Buddha springt über die Mauer“, eine trübe Kräutersuppe mit gekochter Seewalze, die viele Chinesen nach dem Hauptmahl als Vitaminschub genießen. Poetische Bezeichnungen und Euphemismen täuschen in China seit Jahrtausenden über eine wenig appetitliche Optik hinweg. Und wie leicht fällt ein Nichtchinese darauf herein! Stehen die glibberigen Teilchen auf dem Tisch, kann höchstens der Gedanke an ihre Inhaltstoffe und deren Wirkung zum Verzehr beflügeln. Seegurken sind reich an Proteinen, Kalzium, Magnesium, Eisen, Jod, Zink und vielem mehr. In der chinesischen Medizin werden sie gegen Kropfbildung und Arthritis, gegen Mangel an roten Blutkörperchen, Haarausfall und Akne verabreicht. Die angeblich aphrodisische Wirkung ist wohl eher auf ihre phallusähnliche Form zurückzuführen.

„Seegurken in guter Qualität“, erklärt Herr Poon Kuen Fai, „werden ausschließlich in getrocknetem Zustand importiert. Die frischen, die man hier auf den Märkten findet, kommen aus den Küstengewässern Chinas und sind minderwertig.“ Seine eigenen stammen überwiegend aus Indonesien und von den südpazifischen Inseln. Im Lagerraum reihen sich große Plastiksäcke mit den verschiedenen Edelspezies. Die 25 bis 30 Zentimeter lange Sorte „White Stone“ (Edel-Seewalze, wissenschaftlich: Holothuria nobilis) sieht aus wie ein vertrocknetes mehlbestäubtes Baguettebrötchen. „Gold-Hill Stone“ (Leucospilota) erinnert an den gebräunten Zeigefinger eines polynesischen Fischers. Um die 200 Hongkong-Dollar kostet davon ein Catty, das sind 50 Mark für 600 Gramm. Zehnmal so teuer ist der kleine „Prickly Redfish“ (Stichopus japonicus) aus den kühleren Meeren Japans und Koreas. Die dunkelgraue, cocktailwurstlange Walze besitzt vier Stachelreihen. „Je mehr Stacheln, desto besser“, sagt Direktor Poon Kuen Fai. „Außerdem müssen sie leicht nach Algen duften.“

Die Konservierung von Fleisch durch Trocknen ist so alt wie die chinesische Kultur. Bereits vor 5000 Jahren wurden Seegurken in Pulverform gegen Krankheiten verabreicht. Unter kulinarischem Aspekt reicht diese Konservierungsform zumindest bis in die Zeit der Han-Dynastie in den zwei Jahrhunderten vor der Zeitwende zurück. In seiner Vorliebe für exotische Ingredienzen mochte der Adel, auch wenn er fern der Küste residierte, nicht auf Meerestiere verzichten. Sie mussten konserviert und quer durch das Reich transportiert werden. Im Gegensatz zu gepökelter Ware, wie in Europa früher üblich, behält getrocknetes Fleisch seinen Eigengeschmack besonders gut. Auf diese Weise lässt es sich ohne Qualitätseinbuße monatelang lagern und wegen des geringen Gewichtes leicht in großer Menge über weite Strecken befördern.

Für die Fischer des Malaiischen Archipels, Neuguineas, Mikronesiens und Polynesiens ist die Ernte recht einfach. Sie tauchen von ihren Booten in die flachen Gewässer, wo die Seegurken an manchen Stellen in Massen auf dem Grund herumliegen, und sammeln sie in ihre Netze ein. An Land werden sie gekocht, ausgenommen und zunächst in Holzverschlägen, dann in der Sonne getrocknet. Hochseetüchtige Kutter transportieren die kostbare Fracht von ihrer Heimat nicht selten Tausende von Meilen zu den chinesischen und anderen ostasiatischen Märkten.

Nun ist aber die Nachfrage nach der Delikatesse in den letzten zehn Jahren derart rasant gewachsen, nicht zuletzt aufgrund steigenden Wohlstandes in der Volksrepublik, dass die Bestände der essbaren Seegurken in vielen Regionen des Südpazifiks stark dezimiert, zum Teil bereits vernichtet sind. Die Aussicht auf gute Gewinne treibt Händler inzwischen in die entlegensten Regionen und maritimen Naturschutzgebiete, wo sie unter den einheimischen Fischern eine Art Goldrausch auslösen. Man muss sich das mal vorstellen: Ein bis dahin nutzloses Tier, welches zudem in großer Zahl sozusagen vor der Haustür liegt, bekommt plötzlich ungeheuren Wert.

Bislang hat diese Art von Raubbau des Meeres kaum Beachtung gefunden. Zu wenig glamourös und unansehnlich sind die Seegurken, zu abgelegen die Orte des Geschehens. Genaue Angaben über die Erntemenge im Stillen Ozean gibt es nicht, nur Schätzungen. Und die sprechen für einen unersättlichen Hunger der Chinesen. Mindestens 50 Millionen Seegurken pro Jahr verschwinden in Wok und Pillen.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Kiki Baron

Kiki Baron, Jahrgang 1954, studierte Ozeanographie und Landwirtschaft in Kiel und lebt als Reisejournalistin in Hamburg. Ihr spezielles Interesse gilt dem Tauchen – bei dem sie sich Seegurken lieber ansieht als auf dem Teller

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Vita Kiki Baron, Jahrgang 1954, studierte Ozeanographie und Landwirtschaft in Kiel und lebt als Reisejournalistin in Hamburg. Ihr spezielles Interesse gilt dem Tauchen – bei dem sie sich Seegurken lieber ansieht als auf dem Teller
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Vita Kiki Baron, Jahrgang 1954, studierte Ozeanographie und Landwirtschaft in Kiel und lebt als Reisejournalistin in Hamburg. Ihr spezielles Interesse gilt dem Tauchen – bei dem sie sich Seegurken lieber ansieht als auf dem Teller
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