Briefe nach daheim

Ein junger Weltenbummler schrieb von 1955 bis 1975 den Eltern Briefe von seinen Abenteuern aus den entlegensten Gegenden der Meere. Nun fand sie sein Sohn auf dem Dachboden wieder

Vor sieben Jahren fand ich eine Pappschachtel in einem Eichenschrank im Haus meiner Eltern. Darin entdeckte ich ein Dutzend Briefe und Postkarten, knittrig und klamm. Manche trugen Marken mit farbigen Muscheln oder Paradiesvögeln. Die akkurate Handschrift auf den Kuverts verriet meinen Vater. Das also waren seine Briefe, von denen so oft die Rede gewesen war. Im Nu fielen mir Geschichten ein, die er uns Kindern erzählt hatte. Mal ging es um Piraten in der Straße von Malakka, ein anderes Mal um seine Zeit als Kapitän des US-Gouverneurs von Guam, einer Insel im Westpazifik, auf der die Amerikaner einen Stützpunkt unterhielten. Kaum mehr als diese Erinnerungssplitter waren mir noch aus seinen Erzählungen bekannt. Er ist gestorben, als mein Bruder und ich Kinder waren. Jetzt aber hielt ich seine Post in der Hand, blätterte darin und las eine Karte, die er am 6. Mai 1973 aus Japan abgeschickt hatte: „Liebe Eltern, auf dem Wege nach Bahrain erhielten wir plötzlich Order für Nachodka-Wladiwostok, sibirisches Schweröl für Japan zu laden. Mittlerweile zwei Tage hier in der fernsten Walachei. Morgen früh geht es wieder zurück nach Japan. Danach … Fahrt ins Blaue. Tschüss bis dann, Euer Friedhelm“

„Fahrt ins Blaue“, er sagte das oft. Es gab noch weitere Wendungen, die ich ständig und fast nur von ihm gehört habe, „auf Achse sein“ oder „auf große Fahrt gehen“. Morgens weckte er uns gerne mit „Reise, Reise!“. Das hieß: aufstehen, Zähne putzen. Es konnte aber immer auch heißen: Sachen packen, es geht los!

„Er war ein Anarchist“, erzählt sein Bruder, „er war beseelt von einem Freiheitswillen, der ans Rücksichtslose grenzte.“ Am Morgen des 22. August 1955 hat mein Vater das Abitur geschmissen und ist mit dem Fahrrad aus Paderborn abgehauen. Ein Zeitungsfoto zeigt ihn vor der Abfahrt mit seinem gepackten Rennrad. Sein Ziel war der Ganges. „Wir hatten lange keine Ahnung, wie es ihm ging“, sagt der Bruder. Erst Monate nach seinem Aufbruch fand man die erste Postkarte. Der Briefträger muss sie unter der Wohnungstür hindurchgeschoben haben. Dabei war sie unter dem Teppich gelandet, wo sie unentdeckt blieb.

Ich finde weitere Briefe im Haus, Dutzende, stapelweise, von Gummibändern zusammengehalten. Sie stecken in Schubladen, Kästen, Kommoden. Allesamt unsortiert, etliche ohne Datum. Nicht selten ist selbst am Stempel nicht zu erkennen, wo und wann sie aufgegeben wurden. Manche sind mit säuberlicher Druckschrift verfasst, andere verlieren sich in unleserlichen Kritzeleien. Mittlerweile sind 135 Briefe, vier Dutzend Postkarten und Hunderte Fotos beisammen; im Großen und Ganzen stammen sie aus der Zeit von 1955 bis 1975.

In manchen steht wunderbar Kurioses wie in folgender Nachricht, die er seinen Eltern 1970 aus Neuguinea geschickt hat: „Ende Mai wird euch einer unserer ältesten Deutsch-Neu-Guineaner besuchen. Schafft euch dafür bitte ein Gästebuch an. Er hat in den zwanziger Jahren in Berlin studiert. Rudi Diercke, verwandt mit Diercke-Atlanten in Deutschland und hier mit einer Königin Emma, Tochter eines amerikanischen Gouverneurs in Samoa, und einer dortigen Prinzessin. Davon braucht ihr nichts zu sagen, wird er vielleicht selbst mit rauskommen. … Und nicht auf fürnehm machen, auf so was stehn wir hier draußen nicht. Immerhin, ich duze Rudi, also jagt ihm keinen Schreck ein.“

Als Kapitän hat mein Vater nur Anfang der 1970er Jahre gearbeitet. Zuvor war er Motelbesitzer auf Neuguinea, Minenschürfer im Norden Australiens, Student in Melbourne und Sprengtechniker in der australischen Armee. 1970 machte er in England sein Kapitänspatent. Ein Bekannter erinnert sich dabei an eine Story: Zur Abschlussprüfung bekamen alle Anwärter die Karte eines außergewöhnlich kleinen, abgelegenen Hafens. Sie sollten erklären, wie sie dort mit einem Tanker anlegen würden. Mein Vater schlug ein wahnwitziges Manöver vor: den Tanker vor dem Hafen drehen, dann sofort rückwärts einlaufen und noch mit dem Schwung der Drehung am Steg anlegen. Was die Prüfer nicht wussten: Er kannte den Hafen und hatte das Manöver schon selbst durchgeführt. Leider weiß niemand, den ich frage, wo der Hafen liegt. Vermutlich findet er sich an der Ostküste Australiens, irgendwo nördlich von Brisbane.

Mein Vater fuhr ungefähr vier Jahre zur See und schrieb fortwährend seinen Eltern. Liest man die Briefe heute, lässt sich eine größere Geschichte nur schwerlich fassen. Es ist wie mit Funksprüchen, die bei Sturm gesendet und nur in Fragmenten im allgemeinen Rauschen empfangen werden. Am besten lässt sich das Jahr 1973 rekonstruieren. Vermutlich war es die fesselndste Zeit seines Lebens. Er war 36 Jahre alt und von Januar bis November für The Moller Group of Companies unterwegs, zumindest schrieb er auf deren Papier. Dem Briefkopf zufolge arbeitete er an Bord der „Blyth Adventurer“. Spaßeshalber suche ich den Namen im Internet und finde überraschend ein Foto: ein Frachter mit schwarzem Rumpf, weißer Kommandobrücke, zwei Masten, Baujahr 1958, Tonnage 12 523 Tonnen, ein unspektakulärer Tanker.


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Dirk Liesemer

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, lebt als Reporter in München. Der Text kostete ihn einiges an Überwindung – wie so oft, wenn Söhne über ihre Väter schreiben.

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