Boten eines fernen Windes

Wie Wellen entstehen, und wie sie sich ausbreiten

Ein Uhr mittags bei Nazaré, träge wie Olivenöl wiegt sich der Atlantik. Schon vor Tagen ist der Wind eingeschlafen. Nur in den Abendstunden ziehen laue Brisen vom portugiesischen Festland eine zarte Gänsehaut über das Wasser.

Plötzlich nähert sich vom Meereshorizont aus heiterem Himmel ein dunkler Wasserwall. Die Touristen raffen Taschen und Tücher. Eltern reißen ihre Kinder aus dem Wasser, und schon fallen die ersten Brecher auf den Strand. Ein heimkehrendes Fischerboot rollt durch vier bis fünf Meter hohe Wellen. Die Gischt der Brecher hat eine leichte, luftige Kühlung gebracht. Doch am Strand von Nazaré herrscht weiter Windstille. Woher dieser Aufruhr im Meer?

Eines scheint auch dem Laien sicher: Die Wellen haben eine lange Reise hinter sich. Denn im nahen Seegebiet vor Portugal hat der Wetterbericht keinen stärkeren Wind gemeldet. Und – abgesehen von den Tsunamis, den unterseeischen Beben, und den langrhythmischen Gezeitenwellen – kann es keine größeren Meereswellen geben, die nicht irgendwann vom Wind angefacht wurden. Einmal angestoßen, können sie dann ohne neuen Antrieb ganze Ozeane überqueren. Denn auf ihrem Weg durchs Wasser verlieren sie kaum Energie.

Die Dünungswellen von Nazaré müssen die ersten Boten einer fernen Windgeburt sein. In welcher Richtung das Windgebiet liegt oder lag, das zeigt die Laufrichtung der Wellen. Denn wenn das Meer tief genug ist und keine Inseln und Untiefen im Weg sind, lassen sich Wellen nicht aus ihrer einmal eingeschlagenen Bahn werfen. Auch wenn andere sie auf ihrem Weg kreuzen: Sie halten konstant ihren Kurs. Und der zeigt hier Südost.

Die Wellen dieser plötzlichen Dünung an Portugals Atlantikküste bieten ein seltenes, ideales Lehrschauspiel: Fast unvermischt mit Wellen anderer Richtungen und Längen zeigen sie – noch ein paar Meter vor dem hier steil abfallenden Strand – die nackte Eleganz aller Meereswellen: die schöne, etwas angespitzte, trochoidale Welle. Sie ist eine Ableitung der reinen Sinuswelle, mit der sich auch elektrische Wellen ausbreiten.

Nun zur Detektivarbeit in Sachen Nazaré: Von Wellenkamm zu Wellenkamm dürfte jede Welle 65 Meter lang sein. Nachmittags um vier taucht aus der gleichen Richtung ein kürzerer, etwa 50 Meter langer Wellentyp auf und legt sich über den ersten. Die „Verspätung“ der zweiten Wellengruppe verrät, wie lange die beiden Gruppen auf dem Atlantik unterwegs waren. Denn Wellen schreiben ihren Lebenslauf korrekt nieder.

Allerdings mit Hilfe einer kleinen „Übersetzung“: Aus den spezifischen Wellenlängen der beiden Gruppen lässt sich ihre unterschiedliche Laufgeschwindigkeit ablesen. Denn Wellenlänge und Geschwindigkeit stehen in einem festen Verhältnis: Lange Schwerkraftwellen (gravity waves) wie die des Meeres laufen nach der Wellentheorie schnell, kurze laufen langsam. Gemäß der einfachen Formel: Geschwindigkeit = 1,25 x √Wellenlänge. Sie gilt für die freien, also durch zusätzlichen Wind nicht forcierten Meereswellen, die in tiefer See laufen, und wurde von dem österreichischen Mathematiker und Physiker Franz Anton Ritter v. Gerstner (1796 bis 1840) errechnet.

Setzen wir die geschätzte Länge der ersten Welle einmal auf 65 Meter fest, dann war sie 36 Stundenkilometer schnell. Dieses Tempo gilt allerdings für die einzelne Welle. Die Reisegeschwindigkeit der ganzen Gruppe beträgt nur exakt die Hälfte, also 18 Stundenkilometer. Der Grund: Jede hinten neu entstehende Einzelwelle muss ihre Gruppe einmal nach vorn durchlaufen, um sich danach an die Spitze zu setzen.

Auf die Entfernung zum gemeinsamen Geburtsort und zur Stunde Null verweist der Geschwindigkeitsunterschied zur zweiten Wellengruppe. Sie war mit 50 Meter Länge nur 16 Stundenkilometer schnell und brauchte so für die gleiche Entfernung drei Stunden länger. Wenn also die Geschwindigkeiten (Wegstrecke pro Zeiteinheit) und der Unterschied zwischen den Laufzeiten der beiden Wellengruppen bekannt sind, dann errechnet sich auch die von beiden zurückgelegte gleich lange Strecke und ihre Laufzeit. Die Geburtsstunde beider Wellentypen lag damit 24 Stunden vor dem ersten großen Schwall und der Geburtsort rund 430 Kilometer nordwestlich.

Überall dort, wo verschieden dichte Massen aufeinanderstoßen und aneinander vorbeischieben, entstehen Wellen: Die rippenförmigen Wolkengebilde in der Stratosphäre deuten auf unterschiedlich dichte Luftmassen. Seismische Wellen entstehen durch die Schubkräfte zwischen Gesteinsschichten. Die Wellen im Stoff einer flatternden Fahne rühren vom Zusammenprall gespaltener Luftschichten.

Die Sinuswelle ist die Form, mit der ein Höchstmaß an Energie von einem Medium aufs andere übertragen und aus der Reibungszone abtransportiert werden kann. Die Reibungszone für die Meereswellen ist die Wasseroberfläche des Fetch, des Feldes, auf das der Wind mit unendlich vielen Impulsen einwirkt. Das bisher glatte Wasser widersetzt sich (mit der Kohäsionskraft seiner Moleküle) dem entstehenden Druck, schießt über die Nullinie hinaus und wird dann durch die Schwerkraft zurückgeholt. Um sein ursprüngliches Gleichgewicht wiederherzustellen, versucht es gleichzeitig, sich der Macht der Luftmassen örtlich zu entwinden. Sinnigerweise werden diese „Windungen“ um so höher, je stärker die Einwirkung des Windes auf das Wasser ist. Hohe Wellen bewegen also mehr Energie als niedrige.

So manche Weltumsegelung wäre nur ein Törn von wenigen Wochen, wenn auch das Wasser selber sich so schnell bewegte wie die Wellen. Ein durchnässtes Treibholz wenige Meter vor der Brandung bei Nazaré zeigt dagegen, dass es bei dem Überfall der Wellen praktisch auf der Stelle tritt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, wie sich das Holz beim Herannahen des Wellenkamms vorwärts und zugleich aufwärts bewegt. Nachdem der Kamm durchgelaufen ist, treibt das Holz wieder zurück und abwärts. Den Anstoß für dieses Torkeln erfährt es aus kreisförmigen Wasserbewegungen innerhalb der Welle, deren Radien mit der Wassertiefe abnehmen. Diese Orbitalbewegungen rühren das Wasser bis zu einer Tiefe auf, die der halben Wellenlänge entspricht. Seegang ist also weit mehr als ein oberflächliches Ereignis: Bei Windstärke sechs bis sieben und Wellen von 100 Meter Länge und fünf Meter Höhe reicht die Bewegung der Welle 50 Meter tief. Stößt die Welle auf Grund, werden diese Kreise zu Ellipsen zusammengepresst.

In flachem Wasser gelten daher andere Gesetze. Hier bestimmt man die Laufgeschwindigkeit der Welle wegen der „Bodenbremse“ nicht mehr über die Wellenlänge, sondern über die Wassertiefe. Ist diese kleiner als ein Zwanzigstel der Wellenlänge, dann beträgt die Geschwindigkeit gut das Dreifache der Quadratwurzel aus der Wassertiefe (Flachwasserformel: Geschwindigkeit (m/s) = 3,13 x √Tiefe (m)).

Im Anfang des Windfeldes (Fetch), des gemeinsamen Entstehungsortes der unterschiedlichen Wellen, liegen also zunächst noch alle Wellentypen nah beieinander. Dann kommt es langsam zur Dispersion, mit der das Feld aufreißt und die langen Wellen die Führung übernehmen. Ist das Windfeld einmal verlassen und taucht auf dem Weg kein neues auf, dann steht das weitere Schicksal der Welle fest.

Im Gegensatz zu diesen freien Wellen wachsen die forcierten Wellen noch während der Zeit, die sie sich innerhalb des Windfeldes fortbewegen, da laufend neue Windenergie in sie hineingepumpt wird. Doch dieses Wachstum ist begrenzt: Ihre Steilheit (steepness; das Verhältnis von Höhe zu Länge) kann den Wert von 1:7 nicht überschreiten. Wellen, die spitzer werden als 120 Grad, das fand der irisch-englische Physiker George Gabriel Stokes (1819 bis 1903) heraus, werden instabil und brechen. Sie verstreuen ihre Energie in Gischt und Schaum und neue, kleinere Wellen. Das passiert exakt dann, wenn sie genauso schnell geworden sind wie ihr Antreiber, der Wind. In diesem Stadium nennt man sie voll entwickelt oder ausgereift.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Uwe Wandrey

Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel Menschen, Meere, Metamorphosen.

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Vita Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel Menschen, Meere, Metamorphosen.
Person Von Uwe Wandrey
Vita Dr. Uwe Wandrey ist gelernter Schiffbauingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel Menschen, Meere, Metamorphosen.
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