Böses Würmchen

Eine Muschel beißt sich durchs Leben, getarnt als Wurm und auch sonst trickreich. Man fürchtet sie in aller Welt. Denn sie hat vermutlich mehr Schiffe auf dem Kerbholz als alle Admirale zusammen

Als die Werft zu schwanken beginnt, sind die Arbeiter starr vor Angst. Ist es ein Erdbeben? Ächzend neigt sich die hölzerne Pier zur Seite. Lastwagen und Kisten stürzen in die Bucht von San Francisco. Dann brechen die großen Stützpfeiler der Stege, krachend versinken Bohlen und Planken. Zuletzt kippt das Zollgebäude ins schäumende Wasser. Wie der Benicia-Werft ergeht es im Herbst 1920 vielen Bauten, die auf Holzpfählen in der Bucht stehen. Beinahe wöchentlich bricht ein Fähranleger oder ein Gebäude zusammen. In der San Francisco Bay sieht es aus, als hätte ein Orkan gewütet.

Die Stadtverwaltung trommelt eilends Ingenieure, Holzspezialisten, Chemiker und Biologen zusammen. Sie werden schnell fündig: Kalkweiße Gänge durchziehen die Pfeiler bis in den Kern. Das Holz ist völlig zerfressen, es hat die Hälfte seines Gewichts eingebüßt. Die Stämme sind so weich, dass man ein Messer hineindrücken kann. Das Schadensbild ist eindeutig: San Francisco erlebt die bislang schlimmste Massenvermehrung von Schiffsbohrwürmern. Tief sind die Tiere bereits ins Holz eingedrungen und lassen sich von außen nicht mehr bekämpfen. Gut geschützt, fressen sich Millionen von Würmern durchs Gebälk. In etwas mehr als einem Jahr zernagen sie Bauten im Wert von mehr als einer halben Milliarde US-Dollar. Erst im Sommer 1921 machen sich die Tiere endlich wieder rar. Die Verzweiflung ist groß, denn die Bucht galt lange als bohrwurmsicher. Als sich US-Marine-Kommodore John Sloat 1852 an der Westküste nach einem geeigneten Ort für einen neuen Stützpunkt umsah, befahl er seinen Offizieren, einen Platz zu suchen, der „safe from attack by wind, wave, enemy, and marine worms“ sei – „sicher vor Angriffen durch Wind, Welle, Feind und Meereswürmern“. Die San Francisco Bay schien ideal, denn ihr Wasser ist zu süß, als dass sich der von Sloat gefürchtete pazifische Bohrwurm Bankia setacea darin wohlfühlen würde. Wie die meisten der 66 bekannten Bohrwurmarten bevorzugt Bankia eher salziges Meerwasser. Doch weder Sloat noch seine Nachfahren hatten mit Bankias Vetter Teredo navalis gerechnet.

Teredo navalis ist ein Weltenbummler und der schlimmste Zerstörer unter den Bohrwürmern. Er fühlt sich im warmen Tropenwasser vor Australien und in der kühlen Nordsee wohl. Er erträgt das salzige Mittelmeer, aber auch das Brackwasser der Ostsee. Woher er stammt, weiß niemand genau. Vermutlich ist er im Lauf der Jahrhunderte als blinder Passagier in Schiffsrümpfen um die Welt gewandert. Vor San Francisco sichteten Forscher ihn erstmals 1913. Doch keiner hatte damals geahnt, dass er sich gleich durch die ganze Bucht fressen würde. Zu spät erkannte man die Ursache: 1919 und 1920 hatte es kaum geregnet, die Flüsse spülten nur wenig Süßwasser in die Bucht. Meerwasser strömte ein und bescherte Teredo optimale Brutbedingungen.

Teredo und seine nahen Verwandten sind weiche Wesen, knapp fingerdick und ungefähr so lang wie Bleistifte. Sie sehen aus wie Würmer, gehören aber zu den Muscheln. In 60 Millionen Jahren haben sie sich optimal an ihren Lebensraum angepasst, ja, sie sind ganz und gar vom Holz abhängig, denn nur ihre Wohnröhre bietet dem verletzlichen Leib Schutz. Die Muschelschalen sind zu zwei scharfen, kleinen Platten geschrumpft, die am Vorderende sitzen. Damit arbeitet sich die Muschel wie ein Minibagger millimeterweise ins Holz. Stimmen Wassertemperatur und Salzgehalt, ist die Beißlust enorm: Bei angenehmen 15 bis 25 Grad Celsius durchbohren die Tiere 30 Zentimeter dicke Eichenstämme in einem halben Jahr. Und sie können drei Jahre alt werden.

Seit Menschen hölzerne Stege und Schiffe bauen, pfuschen ihnen die ozeanischen Termiten ins Handwerk; vermutlich haben die Weichtiere mehr Schiffe versenkt als alle Admirale und Piraten zusammen. Kolumbus verlor angeblich gleich mehrere Korvetten seiner Armada, weil keiner bemerkte, wie wurmstichig sie waren. 1731 brachen in Holland bei einer Sturmflut von Würmern durchlöcherte Deichtore: Hunderte Menschen ertranken. 1922 berichtet die „New York Times“ vom „Krieg gegen den Schiffswurm“, und 1980 muss man am Hudson River mehrere beschädigte Piers reparieren – für rund 100 Millionen US-Dollar.

Auch an der deutschen Nordseeküste sind die Tiere bis heute aktiv. Cuxhavener Behörden melden Schäden erstmals im Jahr 1800. Später kommen Bremerhaven, Wilhelmshaven und Emden dazu. Fast immer bohrt Teredo. Freilich haben die Seefahrer Gegenmittel entwickelt. Die Ägypter sollen ihre Schiffe mit einem schützenden Balsam bestrichen haben, und die Chinesen bauten Doppelhüllenboote mit einer Zwischenlage aus Ziegenleder, die sich dem Zugriff der Bohrwürmer widersetzte. Vor etwa 100 Jahren begann man schließlich, Hölzer mit Kreosot zu bestreichen, einem aus Kohleteer destillierten Cocktail chemischer Verbindungen. Das giftige Gemisch machte allerdings nicht nur Bohrwürmern, sondern auch Muscheln in der Nachbarschaft den Garaus; es ist heute längst verboten.

Dass Teredo und seine Verwandten trotz verfeinerter Gegenmaßnahmen immer wieder wie eine Naturgewalt über die Menschen hereinbrechen, liegt an ihrer Unberechenbarkeit. Manchmal machen sie sich für Jahrzehnte rar – vermutlich, wenn Salzgehalt und Temperatur nicht mitspielen. Wer sie vergisst und fortan auf unbehandeltes Holz setzt, hat einer überraschenden Attacke nichts entgegenzusetzen. So mussten 1993 auch die Bediensteten des Staatlichen Amtes für Umwelt und Natur (StAUN) in Rostock hilflos mit ansehen, wie sich Teredo navalis durch die Buhnen an den Stränden von Mecklenburg-Vorpommern fraß – etwa 100 Meter lange Reihen arm-dicker Pfähle, die man als Strömungsbarriere und Wellenbrecher in den Grund gerammt hatte.

Teredo hatte sich an der deutschen Ostseeküste zuletzt in den 1950er-Jahren massenhaft vermehrt, und längst waren die Behörden dazu übergegangen, in ihren Buhnen billiges unbehandeltes Kiefernholz zu verbauen. Nun aber spülten die Wellen den StAUN-Mitarbeitern beim Strandspaziergang verdächtig oft abgebrochene Kiefernstämme vor die Füße – die Bruchstelle so zerfetzt, als hätte ein Hai zugepackt. Das Ausmaß der Zerstörung war gewaltig: Teredo hatte mehr als zwei Drittel der 1100 Buhnen befallen. „Wir wussten sofort, was los ist, schließlich sind Bohrwürmer hier alte Bekannte“, sagt StAUN-Leiter Hans-Joachim Meier.


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mare No. 68

No. 68Juni / Juli 2008

Von Tim Schröder

Schon manches Mal hat der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, am Strand durchlöchertes Treibgut gefunden. Dass die Tiere aber derart viel auf dem Kerbholz haben, hat ihn überrascht.

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Vita Schon manches Mal hat der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder, Jahrgang 1970, am Strand durchlöchertes Treibgut gefunden. Dass die Tiere aber derart viel auf dem Kerbholz haben, hat ihn überrascht.
Person Von Tim Schröder
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