„Böhmen liegt am Meer!“

Erst William Shakespeare, dann Ingeborg Bachmann: Dass Böhmen am Meer liegt, ist den Böhmen ein liebgewordener Mythos. Die Schrulle erzählt viel von der Seele des Binnenlandvolks

Böhmen liegt am Meer, das steht fest, seit Ingeborg Bachmann uns das lyrisch dekretiert hat, in poetischer Verklärung einen Stehsatz vorsetzte, von einigen Zeilen in Shakespeares „Wintermärchen“ ausgelöst: A desert country near the sea, heißt es über ein Land namens Bohemia, einer Gegend, öd und fern, wie man es sich nur in der Vorstellung ausmalen kann, Fiktionen, wie sie den Gefühlsvisionen von Dichtern entspringen. Kein schlechter Hintergrund für der Böhmen luftige Neigung zu surrealer Auffassung von Wirklichkeit.

Bachmann unternimmt im Januar und Februar 1964 zwei Reisen nach Prag, lernt dabei eine CSSR kennen, in der Hoffnungen nach einem Reformsozialismus zu blühen beginnen. Für sie stand die Reise in engem Zusammenhang zu ihrer Trennung von Max Frisch. Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern, heißt es in der positiv gestimmten Eröffnung des Gedichts. Sie verbindet ihre persönliche Tragödie mit der politischen Lage in der CSSR und schöpft für beide neuen Mut.

[…] Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. / Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land. // […] Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. // Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. […]

Das Gedicht gilt als eine von Bachmanns bedeutendsten lyrischen Arbeiten. Erich Fried hat sich intensiv damit beschäftigt, Thomas Bernhard nannte es ein „Böhmisches Manifest“, Bachmann-Spezialist Hans Höller einen „einzigartigen lyrischen Glücksfall“. Bachmann war damals einem durch und durch hässlichen Berlin entflohen, ein Ort, gezeichnet von Krankheit und Tod, Zerstörung und Verbrechen. Die Beschädigung von Berlin, deren geschichtliche Voraussetzungen ja bekannt sind, erlaubt keine Mystifizierung und keine Überhöhung zum Symbol. Hingegen Prag: grüne Häuser, heile Brücken, guter Grund, Wasser, Meer, Häfen, in denen man anlanden kann, die Schutz bieten.

Aus einer Welt ohne Mythen, oder eben der zerstörten Mythen, wie Bachmann Berlin damals wahrnahm, kam sie in einem Prag an, in dem die Menschen vor Hoffnung sprühten, bereit, sich in ihren Mythen wieder einmal verlieren zu wollen. Eine Reise in eine hellere Welt, auch hier nicht alles ungebrochen, dennoch eine Art Heimkehr, Rückkehr ins Haus Österreich, wie sie im Roman „Malina“ es nennt, auch nur mehr eine Ruine, dennoch: Ich erinnere mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus. Als 1968 „Böhmen liegt am Meer“ in Enzensbergers „Kursbuch“ erscheint – und sicher gerade deshalb, weil nun alle Hoffnungen von sowjetischen Panzern zermalmt waren –, ist die erhoffte hellere Zukunft für Böhmen bereits im Reich der virtuellen Legenden versunken.

Die Sehnsucht nach dem Meer, eigentlich allen Binnenländern gleich eigen, ist jedoch den Böhmen ein Identitätsfaktor. Franz Fühmann, Böhme von Geburt, verbringt, nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft nach Ostberlin, seinen ersten Urlaub in einem kleinen Dorf an der Ostsee. Mit dem Vorsatz, nun endlich Shakespeares „Wintermärchen“ zu lesen, am Meer, in den Dünen liegend, das Reclam-Heftchen aus der Rocktasche gezogen, endlich dem Geheimnis nachzugehen, was es mit dem Königreich Böhmen am Meer auf sich hat: … Es begann in Sizilien, ein Hauch von Orangenblüten und ein jäher Zorn, und dann tauchte, wahrhaftig, Böhmen herauf, und dieses Böhmen lag am Meer. Es war ein raues Land, von Bären durchschweift; es lag am rauen nordischen Meer, und vor seiner Küste trieben die armen schiffbrüchigen Seelen brüllend ins schwarze gurgelnde Nichts. Böhmen am Meer.


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mare No. 110

No. 110Juni / Juli 2015

Von Frank Tichy

Frank Tichy, geboren 1939, ist Anglist und Germanist und war Hochschullehrer in Salzburg, Hull (Yorkshire) und Xian (China), heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller. Seit den 1980er Jahren ist er „aus einer unbezwingbaren Neugier heraus immer weiter ins biografische Genre gedriftet“. Tichy lebt im Salzburger Land.

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Vita Frank Tichy, geboren 1939, ist Anglist und Germanist und war Hochschullehrer in Salzburg, Hull (Yorkshire) und Xian (China), heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller. Seit den 1980er Jahren ist er „aus einer unbezwingbaren Neugier heraus immer weiter ins biografische Genre gedriftet“. Tichy lebt im Salzburger Land.
Person Von Frank Tichy
Vita Frank Tichy, geboren 1939, ist Anglist und Germanist und war Hochschullehrer in Salzburg, Hull (Yorkshire) und Xian (China), heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller. Seit den 1980er Jahren ist er „aus einer unbezwingbaren Neugier heraus immer weiter ins biografische Genre gedriftet“. Tichy lebt im Salzburger Land.
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