Bitterer Reis

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schafft Frankreich 20 000 Zwangs­arbeiter aus Indochina nach Europa. Sie sollen Franzosen ersetzen, die an der Front sind – und den Reisanbau in der Camargue reanimieren

An einem Abend im November 1939 klopft es an der Tür des Hauses eines Reisbauern in Thô Lam, gut 150 Kilometer südlich von Hanoi in Vietnam. Es ist der Gehilfe des Bürgermeisters. Er eröffnet dem Vater der Familie, die sich nach der Arbeit auf ihren Feldern zum Essen versammelt hat, dass er einen seiner Söhne rekrutieren müsse. Frankreich, der Kolonialherr in Indochina, benötige ihre Hilfe. Sie sollten die Arbeiter und Bauern ersetzen, die seit zwei Monaten im Krieg gegen Hitlerdeutschland kämpfen. Jeder Bürgermeister sei vom Generalgouverneur in Hanoi angewiesen, in den Dörfern nach Familien zu suchen, in denen es wenigstens zwei Söhne gebe. Der Vater solle einen der Söhne benennen und seinen Namen dem Bürgermeister binnen dreier Tage mitteilen. Ungerührt erklärt er am Ende, falls die Familie sich weigere, müsse der Vater ins Gefängnis.

Mit 19 Jahrenist Pham Van Nhân der jüngste der drei Söhne, die an diesem Abend starr vor Angst die Worte des Beamten hören. Er läuft in den nahen Wald, um sich zu verstecken. Aber sein Vater findet ihn und stellt ihn zur Rede. Er sei zwar verheiratet wie seine Brüder, habe aber kein Kind.

Er müsse gehen. Pham fügt sich, wie es Sitte ist in Vietnam, wenn der Vater es verlangt.
Außer ihm werden in seinem Dorf 24 weitere junge Männer rekrutiert. Sie fah- ren in den folgenden Wochen in die nahe Stadt zur Registratur, wo sie fotografiert und nummeriert werden, und zur medizinischen Untersuchung. Da sind es nur noch acht, darunter Pham. Bis auf ihn sind alle verheiratete Männer mit Kindern.

Die Rekrutierungen finden in allen Provinzen statt. Insgesamt sind es 19 500: 6900 aus der Provinz Tonkin, aus Annam 10 850 und 1800 aus Cochinchina. Kambodscha und Laos bleiben vorerst verschont. Laut dem Erlass 510-IGT, den Generalgouverneur Georges Catroux am 9. Oktober 1939 unterschrieben hat, sollen es sogar 50 000 sein. Aber es fehlt an Beamten, um den Erlass umzusetzen, und an Schiffen, um die Zwangseinwanderer nach Europa zu bringen.
„Französisch-Indochina“ ist seit 1887 der Name des französischen Kolonialreichs auf dem Gebiet des heutigen Vietnam, Kambodscha und Laos. Schon 25 Jahre zuvor haben die Franzosen mit Kleinkriegen, Strafexpeditionen und diplomatischen Winkelzügen den vietnamesischen Kaiser Tu Duc derart mürbe gemacht, dass er 1862 im Vertrag von Saigon der Errichtung einer französischen Kolonie in Cochinchina, der Südspitze des heutigen Vietnam, notgedrungen zustimmt. Nachdem die Franzosen 1884 auch die Schutzmacht China geschlagen haben, liegt ihnen ganz Indochina zu Füßen, sie müssen nur noch zugreifen. Binnen weniger Jahre unterwerfen sie nicht nur die übrigen Landesteile Vietnams, sondern auch die Königreiche Khmer, also Kambodscha, und Laos.

Am 2. März 1940 geht Pham Van Nhân in Haiphong an Bord der „André-Lebon“, ein luxuriöses Linienschiff, in dem ein Laderaum als behelfsmäßiger Schlafsaal für die 600 indigènes, „Eingeborenen“, wie die Kolonialbeamten sie nennen, hergerichtet ist. In den übrigen lagern Reis, Tee, Kautschuk und Edelholz. Die Überfahrt ist eine Tortur für die Vietnamesen. Die meisten sind zum ersten Mal auf einem Schiff, viele sind ständig seekrank, andere sitzen apathisch in ihren Verschlägen, es gibt einen Suizid. Die französischen und vietnamesischen Soldaten sind gnadenlos. Schon bei kleinen Vergehen gibt es Prügelstrafen, zu essen gibt es nichts als Reissuppe, Landgänge beim Bunkern sind verboten.

Am 9. April 1940 legt die „André-Lebon“ in Marseille an, neben der „Yang Tse“ und der „Yalou“, mit denen ebenfalls vietnamesische Zwangsarbeiter herangeschafft wurden. Die Männer werden mit Lkws in ein Militärlager gebracht und gemustert. Von nun an sind sie ONS, ouvriers sans spécialisation, ungelernte Arbeiter, die in nummerierten Kompanien aufgeteilt werden.
Organisiert wird die Zwangsarbeit von einer Einrichtung der französischen Verwaltung. Rechtliche Grundlage ist ein ministerielles Dekret von 1934, das im Kriegsfall die Schaffung einer Abteilung für indigene Arbeitskräfte, den Service de la Main-d’Œuvre Indigène, kurz: MOI, vorsieht, die dem Arbeitsministerium untersteht. Ein Erlass von 1939 sieht vor, dass die Rekrutierung der Zwangsarbeiter in Übersee „die Dauer der Feindseligkeiten“ nicht überschreiten dürfe.

Die Beamten des MOI legen in Eilverfügungen die Regeln fest. Wer ein Handwerk beherrscht, kommt in einen Betrieb der Waffen-, Auto- oder Maschinenbauindustrie, wer stark ist, kommt in Baukompanien, in die Forstwirtschaft oder in die Poudrerie de Sorgues in der Provence, eine gefürchtete Munitionsfabrik.

Wer Bauer ist, kommt in die Camargue. Hier sollen sie dem seit Langem schwächelnden Reisanbau auf die Füße helfen, denn der Krieg verlangt immer größere Mengen Lebensmittel.

Pham Van Nhân, der junge Reisbauer, kommt in ein Camp der 26e compagnie nach Salin-de-Giraud, wo etwa 1000 Zwangsarbeiter auf verschiedene mas, Gehöfte, in der Umgebung verteilt werden, zu alteingesessenen französischen Reisbauern, oder in improvisierten Feldlagern untergebracht werden, in unmittelbarer Nähe der Reisfelder, in Holzbaracken, meist ohne Heizung und ohne Schatten spendende Bäume.

Die Geschichte des Reises in der Camargue ist kurz. Zwar ordnet König Henri IV. schon 1593 an, in der Camargue Reis anzubauen, als Beilage für seine poule au pot, seinen sonntäglichen Hühncheneintopf. Aber die eigentliche Geschichte des Reisanbaus beginnt erst um 1860 mit dem Bau von Deichen, die zum Schutz vor den im Frühjahr, nach der Schneeschmelze in den Alpen, zerstörerischen Fluten der Rhône errichtet werden. 


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mare No. 139

mare No. 139April / Mai 2020

Von Karl Spurzem und Clément Baloup

Karl Spurzem, Jahrgang 1959, stieß auf die Zwangsarbeiter bei Recherchen zur Reiskultur der Camargue.

Clément Baloup, geboren 1978 mit französischen und vietnamesischen Wurzeln, wuchs in Europa, Polynesien und Südamerika auf und studierte Kunst in Marseille und Hanoi. Die Illustrationen stammen aus dem Buch Les Linh Tho – Immigrés de force. Mémoires de Viet Kieu, das er 2017 mit Pierre Daum bei Éditions La Boîte à Bulles veröffentlichte.

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Vita Karl Spurzem, Jahrgang 1959, stieß auf die Zwangsarbeiter bei Recherchen zur Reiskultur der Camargue.

Clément Baloup, geboren 1978 mit französischen und vietnamesischen Wurzeln, wuchs in Europa, Polynesien und Südamerika auf und studierte Kunst in Marseille und Hanoi. Die Illustrationen stammen aus dem Buch Les Linh Tho – Immigrés de force. Mémoires de Viet Kieu, das er 2017 mit Pierre Daum bei Éditions La Boîte à Bulles veröffentlichte.
Person Von Karl Spurzem und Clément Baloup
Vita Karl Spurzem, Jahrgang 1959, stieß auf die Zwangsarbeiter bei Recherchen zur Reiskultur der Camargue.

Clément Baloup, geboren 1978 mit französischen und vietnamesischen Wurzeln, wuchs in Europa, Polynesien und Südamerika auf und studierte Kunst in Marseille und Hanoi. Die Illustrationen stammen aus dem Buch Les Linh Tho – Immigrés de force. Mémoires de Viet Kieu, das er 2017 mit Pierre Daum bei Éditions La Boîte à Bulles veröffentlichte.
Person Von Karl Spurzem und Clément Baloup