Bitte nicht schiessen!

Kaum ein ziviles Schiff war im Zweiten Weltkrieg auf dem Meer sicher. Nur portugiesische Kabeljaufischer wagten sich auf den offenen­ Atlantik. Ihre „Weiße Flotte“ schrieb Kriegsgeschichte

Kapitän Silvio war auf der Suche nach Kabeljau. Er wollte noch weiter nach Norden segeln, an Neufundland vorbei Richtung Grönland. Dort sollte es mehr Fisch geben. Die „Maria da Gloria“ machte gute Fahrt. Im Wind legte sie sich ein wenig auf die Seite. Die Männer hatten es sich an Deck bequem gemacht. Einige flickten Segel. Die meisten säuberten ihre Handleinen.

Dann blitzte es. Ein gewaltiger Knall. Splitter flogen. Schreie. Was war hier los? Silvio blickte über die kabbelige See. Kein Schiff, kein Flugzeug. Wer um alles in der Welt beschoss ihn? Eine Granate traf den Klüverbaum. Die Segel fingen Feuer. Dann krachte der Fockmast herab. „Alle Mann von Bord!“, schrie Silvio. Die Männer warfen die kleinen Holzboote ins Wasser, sprangen hinein. Silvio zögerte. An Bord lagen leblose Körper. Doch dann schlug die nächste Granate ein. Jetzt sprang auch Silvio in eine der Nussschalen.

„Rudert!“, brüllte er. Kraftvoll zogen die Männer an den Riemen. Silvio blickte zurück zur „Maria da Gloria“. Das Deck brannte. Noch einmal suchte er den Horizont ab. Jetzt sah er, wer ihn angegriffen hatte. Einige hundert Meter entfernt schob sich der graue Rücken eines U-Bootes aus dem Wasser. Dann detonierte die letzte Granate, mitten zwischen den kleinen Booten. Wieder flogen Splitter. Silvio spürte einen Schlag gegen das Bein, einen brennenden Schmerz und sackte zusammen.

Während die „Maria da Gloria“ langsam versank, drehte „U-94“ ab. Eigentlich hätte U-Boot-Kommandant Otto Ites das Schiff gar nicht angreifen dürfen, denn die „Maria da Gloria“ kam aus Portugal, und Portugal war neutral. Die „Maria da Gloria“ gehörte zur Flotte der Handleiner, schlanker Zwei- und Dreimastschoner, die in jedem Frühjahr von Portugal bis zu den Grand Banks vor Neufundland segelten. Mit langen, hakenbesetzten Handleinen fischten die Männer dort den Kabeljau. Seit fast 450 Jahren hatten die Portugiesen das so gemacht.

Und tatsächlich durften sie im Zweiten Weltkrieg weiter fischen, denn Portugals Diktator António de Oliveira Salazar hatte mit den Deutschen selbstbewusst verhandelt: Die Deutschen brauchten dringend Wolfram für die Rüstung. Wolframbeimischungen machen Stahl härter, und Portugal besaß mehrere Wolframminen. Salazar erteilte den Deutschen Bergbaulizenzen, verlangte aber Gegenleistungen – dazu gehörte die Freiheit für die Handleinerflotte. Während die deutschen U-Boote und Zerstörer im Atlantik Jagd auf Schiffe machten, durften die 45 Handleiner unbehelligt weitersegeln.

Damit sie für die deutschen Kriegsschiffe weithin sichtbar waren, ließen die Reeder sie weiß lackieren. Auf den Rumpf malte man die portugiesische Nationalflagge, den Namen des Schiffes und in großen Lettern „Portugal“. Bis dahin waren die Schoner graue Mäuse auf dem Atlantik gewesen. Mit dem Weiß aber wandelten sie sich nun in aparte Schönheiten. Schnell machte ein neuer Name die Runde: „frota branca“, „weiße Flotte“. Nachts schalteten die Schonerkapitäne sämtliche Positionslaternen an. Hell wie Christbäume glitten die Segler der Weißen Flotte dahin, während sich die Kriegsschiffe und die Frachter der Alliierten als dunkle Schatten durch die Nacht stahlen.

Die Weiße Flotte war ein Kuriosum. Nicht nur, weil sie weitersegelte, während auf dem Atlantik der Seekrieg tobte. Sondern auch, weil sie in den 1940er-Jahren schon altertümlich wirkte. Seit den 1930er-Jahren waren auf dem Atlantik die ersten großen Trawler unterwegs, die den Kabeljau mit großen Netzen fingen. Die Portugiesen aber blieben bei ihrer Tradition, dem Handleinenfang: Jeder Fischer ging in einem kleinen Einmannboot, dem Dory, auf Kabeljaujagd. Die kleinen Dorys waren an Bord wie Holzschalen ineinandergestapelt. Früh am Morgen ließ man sie zu Wasser. Gut 50 Stück. Die Fischer ruderten ein paar Meilen hinaus, ließen ihre Handleinen in die Tiefe gleiten und warteten auf den Kabeljau. Zwölf Stunden blieben sie draußen, selbst wenn es regnete oder starker Wind wehte.

An jenem 5. Juni 1942, dem Tag, an dem die „Maria da Gloria“ im Atlantik versinkt, frischt der Wind auf. Die Wellen rollen gefährlich heran. Kapitän Silvio und seine Männer machen die Boote aneinander fest. Doch im Sturm reißen sich einige los. „Wir haben die Männer nicht wiedergesehen“, sagt Silvio später. Er selbst hat heftige Schmerzen. Einige seiner Leute sind ebenfalls verwundet. Manche sterben. Erst am neunten Tag sichtet ein Flugzeugpilot die halb verdursteten Männer in den Dorys. Er lässt Lebensmittel und Leuchtmunition abwerfen. Am Ende überleben nur Kapitän Silvio und sieben seiner Männer. Mehr als 40 sind tot.


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mare No. 109

No. 109April / Mai 2015

Von Tim Schröder

Dass der Kabeljau aus dem hohen Norden bis heute portugiesisches Nationalgericht ist, findet Tim Schröder, Jahrgang 1970, freier Journalist in Oldenburg, erstaunlich. Schließlich haben die Portugiesen Meer und Fische direkt vor der Tür.

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