Bei den Backfischkönigen

Die Suche nach dem authentischsten Fischlokal in Hamburg führt ins Hafengebiet, in den Stadtteil Veddel. Hier gart ein Ehepaar in einem Ofen von 1947 seinen Fisch, sonst nichts – zur großen Freude der Arbeiter, Zöllner und Trucker im Hafen

Marions Haare sind blond und auf Volumen geföhnt, sie rücken keinen Zentimeter. Würde sie keinen gestärkten Kittel tragen, könnte sie auch die Krystle aus dem „Denver-Clan“ sein. Sie steht hinter einem Tresen aus den fünfziger Jahren. „Astra“ leuchtet es darüber, hinter ihr eine Uhr im Steuerrad. Früher war Marion Göttsche Chefsekretärin in der Diakonie, heute ist sie die Chefin der „Veddeler Fischgaststätte“.

Marion hebt die Brauen, als ich sie frage, ob ich mich zu den Gästen in der Mitte setzen darf. „Da kommen noch fünf!“, bellt sie. Also bewege ich mich auf einen Ecktisch zu. Alle hinterm Zapfhahn stöhnen auf. Schon wieder was falsch gemacht: Diesen Stammtisch, „die Boxe“, muss man sich verdienen.

Die Fischbratküche liegt in einem unscheinbaren Flachbau zwischen Gleisen und Fernverkehr, man muss über die Hamburger Elbbrücken, durchs Gewirr des Veddeler Zollhafens, den Brummis nach. Gegründet wurde die Gaststätte von Louis Matthes. Seine Nachbarn auf der Veddel waren damals „Ulrich’s Tanzdiele“, der kleine Seifenladen „Seifen-Röhrs“ und Frisör „Schnauzi“, das war 1932. Chef Matthes kaufte einen Fischbratofen bei Daniel Wischer, eine Hamburger Institution. Irgendwann übergab er an Sohn Gerd Matthes, und dann kam, 74 Jahre nach Gründung, der Tag, an dem die Göttsches, die blonde Marion und ihr Mann Wolfgang, bei Gerd in der „Boxe“ saßen.

Wolfgang, drahtig, gebräunt, Stammgast mit Oberlippenschnauzer und Hamburg-Barmbek-Akzent, überlegte gerade, sich selbstständig zu machen. Er hatte alles Mögliche durchgespielt, Beautysalon, Eisdiele, warum nicht auch eine Fischgaststätte? „Ich habe nur eine Bedingung“, entgegnete der alte Vorbesitzer: „Es muss alles so bleiben – der Fischbratofen von 1947, die Geheimrezepte, die ,Boxe‘.“

Seitdem sitzen die Göttsches nicht mehr in der „Boxe“, sondern schwitzen in der Küche. Um halb sechs in der Früh geht’s los: Kartoffeln schnippeln, die Panade nach Geheimrezept rühren, Fisch filetieren. Die Göttsches lassen die Gardinen im Sommer zu, die Speisekarte ist immer noch braunes Leder mit goldgestanzten Buchstaben, das Geheimrezept ebenso unangetastet wie die „Boxe“ mit Bannmeile, und die Hits sind seit eh und je die von Elvis und Connie Francis.

Um elf stehen die ersten Leute draußen Schlange für den Backfisch. Marion dirigiert mich im Kittel an den Tisch zweier Rentner. Sie mit adretter Brosche, er mit Strickpullover, beide aus Altkirchdorf. Die Rentner machen mich mit dem Reglement vertraut. Backfisch gibt es in den Größen „Baby“, „mittel“ und „groß“, mit Pommes oder Kartoffelsalat. Sie selbst sitzen vor „mittel“, fünf Stücke Fischfilet. „Nicht über die zwei Gabeln wundern“, bemerken sie. Auf der Veddel wird der Backfisch mit zwei Gabeln gegessen, aus Tradition.

Auch die Einrichtung zeigt Beständigkeit. Lampen aus den Fünfzigern, Schiffsbilder, Fischernetze, ein Flipper an der Tür, ein Garderobenständer aus Messing, und die Gäste sitzen an Resopaltischen, von Marion bunt gemischt. Urveddelaner in Jogginghose, nebenan eine Nerzträgerin, die grünen Männer vom Zoll und die Jungs von der Hundestaffel. Daneben Unterweltgrößen oder zumindest welche, die so aussehen: Männer mit pomadigen Haaren, die über „Geschäfte“ reden. Außerdem sitzen da Hafenarbeiter mit schwieligen Händen. Es kommen sogar „Tagesschau“-Sprecher und lassen sich von Marion durchs Lokal kommandieren. Die zischt jetzt laut ein „Ich fass es nicht!“. Zwei Neue haben sich ihrer Platzierung widersetzt und werden eingenordet.

Dann rauscht „ein Beeeebi“ an meinen Tisch. Es schmeckt großartig! Der Kartoffelsalat mayonnaisig, der Seelachs zart, die Panade göttlich. Es liege an der Temperatur des Fettes, aber mehr will Wolfgang nicht verraten. Als Marion meinen Teller abräumt, sage ich: „Hat toll geschmeckt.“ Ein zackiges „Prima“ kommt zurück.

Plötzlich ist mein Glas verschwunden, dabei hatte ich noch gar nicht ausgetrunken. Auf der Veddel, bei den Backfischkönigen Hamburgs, heißt das „tschüüs“. Eine Beschwerde bei Marion schließe ich aus.


Wolfgangs saure Heringe
Zutaten (für vier Personen)
1200 g gesäuberte Heringe, 
1 große Zwiebel, 3 Lorbeerblätter, 
1/2 Teelöffel Pfefferkörner, 
1/2 Teelöffel Wacholderbeeren, 
1,5 Teelöffel Senfkörner, 100 g Zucker, 3 g Salz, 1 Liter Wasser, 50 Milliliter Doppelessig (7-prozentiger Essig).

Zubereitung
Die gesäuberten Heringe in ein Behältnis legen und die Pfefferkörner, Wacholderbeeren, Lorbeerblätter sowie die Senfkörner über die Heringe streuen. Nun wird der Essigsud in einem gesonderten Gefäß mit Doppelessig, Salz, Zucker und Wasser angemischt und über die Heringe gegossen. Die zerkleinerten Zwiebelringe kommen als Abdeckung über die schwimmenden Heringe. Nach ungefähr drei Tagen sind die sauren Heringe durchgezogen und haben einen zarten Biss.

Veddeler Fischgaststätte, Tunnelstraße 70, 20539 Hamburg; Telefon 040/786389;
www.veddeler-fischgaststaette.de.
Geöffnet von Montag bis Freitag 11 bis 17.45 Uhr

mare No. 103

No. 103April / Mai 2014

Von Stefanie Maeck und Heike Ollertz

Stefanie Maeck ist Absolventin der Zeitenspiegel Reportageschule. Ihre Geschichten kommen aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und Genuss. Sie schreibt aus Hamburg und Nizza.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.

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Vita Stefanie Maeck ist Absolventin der Zeitenspiegel Reportageschule. Ihre Geschichten kommen aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und Genuss. Sie schreibt aus Hamburg und Nizza.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Stefanie Maeck und Heike Ollertz
Vita Stefanie Maeck ist Absolventin der Zeitenspiegel Reportageschule. Ihre Geschichten kommen aus den Bereichen Psychologie, Philosophie und Genuss. Sie schreibt aus Hamburg und Nizza.

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von Stefanie Maeck und Heike Ollertz