Bei Ankunft Mord

Die vierte Etappe der Greenpeace-Expedition führt nach Indien, wo Großprojekte der Schwerindustrie und die Fischerei das Überleben der Meeresschildkröten aufs Spiel setzen

Der Geruch bleibt tagelang in der Nase, wochenlang. Schlimmer noch, ich kann ihn mir jederzeit wieder ins Gedächtnis rufen, auch die Bilder. Ich sehe weite Strände, kilometerlang, die mit Kadavern toter Schildkröten bedeckt sind, dazu der bestialische Gestank der Verwesung. Während der Brutsaison bin ich mit einem Greenpeace-Team an den Stränden des Bundesstaats Orissa im Nordosten Indiens Patrouille gegangen, auf einer Strecke von 80 Kilometern, um die Zahl der tot angespülten sowie der brütenden Tiere zu dokumentieren. In drei Monaten zählten wir 2130 Kadaver. Während der letzten zwölf Jahre sind hier mehr als 120 000 Schildkröten angetrieben, allesamt Opfer der Fischerei, Opfer der großen Schleppnetze.

Die Meeresreptilien müssen alle halbe Stunde zum Atmen an die Oberfläche. Wenn sie sich in einem Fischernetz verheddern, bekommen sie keine Luft mehr und ertrinken. Wie viele Tiere auf diese Weise umkommen, lässt sich nur schwer schätzen, denn nicht jede tote Schildkröte wird auch an Land gespült. Wahrscheinlich liegt die Zahl der Opfer vor der Küste Orissas zwischen 10 000 und 20 000 im Jahr – und das über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt.

Dass so viele Meeresschildkröten als Beifang der Fischerei verenden, ist ein Verbrechen, denn eigentlich genießen sie laut Tierschutzgesetz den gleichen Status wie der Tiger, also den einer Spezies, deren Überleben gefährdet ist. Wenn die Zahl der getöteten Tiere jedoch auf dem gegenwärtigen Niveau bleibt, ist binnen zehn Jahren mit dem Kollaps der Populationen zu rechnen.

Warum erfährt eine Schildkröte nicht dieselbe Rücksicht wie ein Tiger? Vielleicht liegt es daran, dass wir so wenig über sie wissen. Sie gibt den Forschern bis heute Rätsel auf. Wo lebt sie eigentlich? Im Golf von Bengalen? Auf offener See im Indischen Ozean? Wie aus dem Nichts erscheinen sie im Oktober und November zu Tausenden an den Stränden von Orissa, allesamt Tiere einer Spezies, der Oliv-Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea). Es ist eines der Wunder der Natur, wie diese 300 000 bis 400 000 Tiere alle auf einmal, als hätten sie sich verabredet, in einer Massenankunft am Strand landen. Innerhalb weniger aufeinander folgender Nächte kriechen sie auf den Strand und vergraben ihre 100 bis 150 Eier im Sand. Als Begriff für dieses Phänomen hat sich die spanische Bezeichnung eingebürgert: arriba, die Ankunft. Ungefähr 50 Tage später, und das ist nicht minder spektakulär, krabbeln simultan die Schlüpflinge aus Millionen von Eiern in Richtung Meer. Der ganze Strand, scheint es, ist dabei in Bewegung.

Die Bastardschildkröte – übrigens so genannt, weil Zoologen sie urspünglich für eine Kreuzung von Suppen- und Unechter Karettschildkröte hielten – hat sich weltweit drei Strände für ihre Fortpflanzung ausgewählt: Einer liegt in Costa Rica, ein zweiter in Mexiko und der wichtigste in Orissa. 50 Prozent der gesamten Population graben ihre Nester in Indien, und nach einem Abgleich des Genmaterials gehen Biologen heute davon aus, dass die Tiere dieser indischen Population die Urahnen auch der pazifischen und atlantischen Bestände sind.

Der Strand an der Mündung des Devi River war einmal eine solche Anlaufstelle für die große arriba. Aber das ist vorbei, der Ort ist heute ein Massengrab. Ich habe hier auf einem 31 Kilometer langen Abschnitt der Küste einmal mehr als 1000 tote Schildkröten gezählt. Die meisten von ihnen waren als Beifang in Schleppnetzen ertrunken, wie sie selbst in ausgewiesenen Schutzgebieten illegalerweise verwendet werden. Diese Reservate wurden zwar ausdrücklich zum Schutz der Reptilien angelegt, doch sie werden erstens von den Fischern ignoriert und zweitens von den Behörden nicht überwacht. In Devi ist die Kontrolle besonders nachlässig, deshalb hat Greenpeace hier das Turtle Witness Camp eingerichtet, ein „Lager der Augenzeugen“, das die Opfer der Fischerei dokumentieren soll.

Fatalerweise übersieht die Regierung von Orissa, dass der Artenschutz untrennbar mit einem zweiten Komplex verbunden ist. Wenn die Regeln und Quoten die Arbeit der Fischer einschränken, muss man ihnen Alternativen anbieten, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, sonst bleibt der Schutz der Schildkröten ein Lippenbekenntnis. Denn während Fischereibehörde und Naturschützer noch um Positionen ringen, werden weiterhin jedes Jahr Tausende der Schildkröten getötet, das ist die traurige Wahrheit. Die Perspektive der Fischer muss in den kommenden Jahren absolute Priorität haben. Anderenfalls gibt es für die Bastardschildkröte keine Hoffnung.


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mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Ashish Fernandes

Ashish Fernandes, 28 Jahre alt, ist freier Journalist und Greenpeace-Campaigner. Er lebt im südindischen Bangalore. Als er wegen der Demonstration in Delhi im Gefängnis landet, protestieren seine deutschen Kollegen vor der Botschaft Indiens in Handschellen und Fußfesseln. Der Slogan auf ihrem Transparent: „Täter frei, Zeugen im Gefängnis“. Aus dem Englischen von Olaf Kanter.

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Vita Ashish Fernandes, 28 Jahre alt, ist freier Journalist und Greenpeace-Campaigner. Er lebt im südindischen Bangalore. Als er wegen der Demonstration in Delhi im Gefängnis landet, protestieren seine deutschen Kollegen vor der Botschaft Indiens in Handschellen und Fußfesseln. Der Slogan auf ihrem Transparent: „Täter frei, Zeugen im Gefängnis“. Aus dem Englischen von Olaf Kanter.
Person Von Ashish Fernandes
Vita Ashish Fernandes, 28 Jahre alt, ist freier Journalist und Greenpeace-Campaigner. Er lebt im südindischen Bangalore. Als er wegen der Demonstration in Delhi im Gefängnis landet, protestieren seine deutschen Kollegen vor der Botschaft Indiens in Handschellen und Fußfesseln. Der Slogan auf ihrem Transparent: „Täter frei, Zeugen im Gefängnis“. Aus dem Englischen von Olaf Kanter.
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