Begraben im Salz

Unter dem Ural lag einst das urzeitliche Meer von Perm. Übrig blieb davon nichts als eine gigantische Salzschicht tief in der Erde. Ihr unterirdischer Abbau gefährdet nun eine ganze Region

Wasser dringt in die Nase, drückt auf die Trommelfelle. Der Körper, bleischwer, scheint immer tiefer zu sinken. Ich möchte schreien, aber ich schlucke nur Wasser. Endlich zieht mich der Trainer an die Oberfläche. Mama sagt, dass ich damals mit fünf Jahren im Schwimmbad Sodowik beim Üben von Startsprüngen ­beinahe ertrunken sei. Seinen Namen verdankte das Bad der örtlichen Sodafabrik. In Beresniki hat fast alles mit Salz und Soda zu tun, sowohl die Entstehung der Stadt selbst als auch meine erste Kindheitserinnerung.

Salz gibt es in dieser Gegend so viel, dass auch das Wasser einiger Bäche salzig schmeckt. Seit alten Zeiten zog es Tiere und Einheimische zu den Salzquellen. Irgendwann begann man damit, Salzbrunnen zu graben und durch Verdampfung Salz zu gewinnen. So entstand im 17. Jahrhundert neben zwei Siedesalinen und der Sodafabrik auch das Dorf Beresniki. 

Später stellte sich heraus, dass es hier unter der Erde ein ganzes Meer von Salz gab. 1925 entdeckten Geologen in einer Tiefe zwischen 150 und 700 Metern eine Salzschicht, die sich über 205 Kilometer von Norden nach Süden und 55 Kilometer von Westen nach Osten 500 Meter tief erstreckte. Zwischen Schichten von Steinsalz wurde auch Kalisalz gefunden. Für die Gewinnung des Kalisalzes baute man Grubenanlagen. Das Dorf Beresniki entwickelte sich zu einer Stadt, die unmittelbar über den Stollen liegt. Unter Beresniki und der nahen Stadt Solikamsk verlaufen Tausende Kilometer Tunnelgänge. Das Kalisalz aus der Lagerstätte Werchnekamensk gehört vollständig dem Konzern Uralkali. 

Als ich klein war, stellte ich mir oft diese unterirdische Welt vor, denn in den Kalibergwerken arbeiteten die meisten Bewohner. In meiner Fantasie lebte die Stadt in zwei Dimensionen – in einer sichtbaren und einer unterirdischen. Die unterirdische Welt verschlug einem den Atem: Ihre Straßen funkelten in fantastischen rot-weißen Farbtönen und hatten bizarre Formen. Die unterirdische Stadt war eine, die niemals schlief; Tag und Nacht waren dort Menschen mit Lampen und wunderliche riesige Maschinen unterwegs.

Die obere Stadt dagegen erschien mir langweilig, grau und deprimierend, und überhaupt existierte sie ja nur, um jene unterirdische Stadt am Laufen zu halten. Für Abbau und Verarbeitung des Kalisalzes wurde ein gigantisches System erschaffen: Fabriken wurden aus dem Boden gestampft, Straßen gebaut, Menschen herangekarrt und die gesamte Infrastruktur angelegt, was die Menschen fest an diesen Ort band. Meine Mutter zum Beispiel unterrichtete Physik an einer Abendschule für junge Arbeiter. In der UdSSR wurde jedem Absolventen eine Stelle mit der Auflage zugewiesen, mehrere Jahre dort zu arbeiten, wohin ihn der Staat geschickt hatte. So kam meine Mutter nach ihrem Abschluss an einer Hochschule in Kasachstan in die Stadt über den Stollen im Ural.

Ursache für all das war im Grunde das Meer. Das im Ural gefundene Salz war vor 290 Millionen Jahren das urzeitliche Meer von Perm. Warm und nicht tief, erstreckte es sich vom heutigen Polarmeer bis zum Kaspi­schen Meer und war voller Leben – mit Wasserpflanzen, Korallen, Weichtieren und einer fantastischen Fischwelt. Am Ende des Paläozäns begann sich der Bergrücken des Urals zu heben. Das Meer zerfiel in Lagunen, wurde seicht, bis es schließlich austrocknete und enorme Mengen an Bodenschätzen hinterließ. Die Lagerstätte Werchnekamensk – jene gigantische Salzschicht, die 1925 entdeckt wurde – ist eine dieser Lagunen.

Ich bin acht Jahre alt, meine Freunde und ich rennen über den Schulhof und rufen: „Es wogt das Meer: eins! Es wogt das Meer: zwei! Es wogt das Meer: drei! Alle Meereswesen – Tanz vorbei!“ Bei „Tanz vorbei“ musste jeder in merkwürdig verrenkter Pose stillstehen. Mit 17 beendete ich die Schule und verließ Beresniki für immer. Die Stadt aber scheint in einem Stillstand zu verharren – und ist zu alldem noch marode. An der Stelle unseres Schulhofs gähnt nun ein riesiges Erdloch. Wegen dieses Lochs, genauer gesagt, wegen solcher Einsturzkrater, von denen es in der Stadt und Umgebung schon neun gibt, bin ich nach 20 Jahren nach Beresniki zurückgekehrt.
Als Ursachen für diese Einstürze nennt man in Beresniki sowohl die Besonderheiten der Bodenbeschaffenheit (die wasserundurchlässige Schicht über den Stollen habe sich als nicht fest genug erwiesen, um vor dem Eindringen von Grundwasser in die Salzschicht zu schützen) als auch menschliche Schlamperei (Salz wurde abgebaut, aber die Hohlräume wurden nicht versetzt). Wie verworren auch immer die Ursachen waren, der weitere Prozess war nur allzu logisch: Das Grundwasser löste die Wände der Stollen auf und führte zu ihrem Einsturz. Das Ergebnis sind gigantische Trichter an der Erdoberfläche.

Der erste Einsturz ereignete sich 1968, elf Kilometer von Beresniki entfernt. In den sowjetischen Medien wurde er nicht erwähnt, und fast niemand hatte je davon gehört. Eine rätselhafte Geschichte ging um: „Im Wald auf dem Weg zum Pionierlager gibt es einen See, der immer größer wird. Man darf sich ihm auf keinen Fall nähern.“ Das war alles, was ich wusste. In Wahrheit hatte es in Grube Nummer drei einen Unfall gegeben: In den Schacht drang Grundwasser ein, und es gelang nicht, es zu stoppen. Die Grube wurde geflutet und aufgegeben. Das Wasser löste Salzwände und Kuppel des Schachts auf, an der Ober­fläche kam es zum Einsturz, und so entstand dieser See.

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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Ekaterina Balaban  

Die russische Journalistin und Fotografin Ekaterina Balaban, Jahrgang 1976, ­reis­te zuletzt im Januar 2022 in ihre Heimat, kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Heute lebt sie im Exil in Riga. „Wenn ich mir jetzt die Fotos aus ­meiner Heimatstadt ansehe, sehe ich nicht nur die Stadt, sondern auch das Land, das in den Abgrund stürzt“, sagt sie.

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Vita Die russische Journalistin und Fotografin Ekaterina Balaban, Jahrgang 1976, ­reis­te zuletzt im Januar 2022 in ihre Heimat, kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Heute lebt sie im Exil in Riga. „Wenn ich mir jetzt die Fotos aus ­meiner Heimatstadt ansehe, sehe ich nicht nur die Stadt, sondern auch das Land, das in den Abgrund stürzt“, sagt sie.
Person Von Ekaterina Balaban  
Vita Die russische Journalistin und Fotografin Ekaterina Balaban, Jahrgang 1976, ­reis­te zuletzt im Januar 2022 in ihre Heimat, kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Heute lebt sie im Exil in Riga. „Wenn ich mir jetzt die Fotos aus ­meiner Heimatstadt ansehe, sehe ich nicht nur die Stadt, sondern auch das Land, das in den Abgrund stürzt“, sagt sie.
Person Von Ekaterina Balaban