Bedingungsloser Einsatz

Wenn die Seenotretter bei Sturm den Hafen verlassen, geht es nicht selten um Leben und Tod. Ihre Frauen bleiben zurück. Und warten. Und hoffen.

Petra Steffens. Am Tag, nachdem ihr Mann über Bord gegangen war, als ganz Neuharlingersiel über den Unfall sprach und die Medien schon die Schlagzeile formulierten vom schiffbrüchigen Seenotretter, an diesem Tag bekamen die Steffens Besuch. Hätte man ihn, Dieter Steffens, nur 15 Minuten später gefunden im eisigen Wasser, es wäre ein Kondolenzbesuch gewesen. Geschrieen hatte er im Meer, auch gebetet, obwohl er dies als Junge das letzte Mal tat und selbst Weihnachten nicht in die Kirche ging, jetzt aber, inmitten der tosenden Nordsee, betete er laut, und er dachte an die Kinder unterm Tannenbaum, an die Eltern und an sie, Petra, seine Frau, und zwischendurch gab es Momente, in denen er das Bewusstsein verlor, doch dann schrie er wieder, eine ganze Stunde lang, bis ihn ein anderes Rettungsboot hörte. Ein Hubschrauber zog ihn aus dem Wasser, blau waren seine Beine wegen der Unterkühlung, 31 Grad Körpertemperatur. In der Stunde, als er gegen die Wellen und den Tod kämpfte, hatte er vier Kilo abgenommen.

Am Tag danach also, gerade erst hatte Petra ihn aus dem Krankenhaus geholt, klingelte es, und vor der Tür stand ein anderer Seenotretter. Den ganzen Nachmittag saßen sie zusammen im Wohnzimmer, und Petra Steffens, die Frau, die fast Witwe geworden wäre, ließ die beiden allein. Sie verließ den Raum, wie sie sagt, aus „Respekt vor dem Seemann“.

„Ich konnte es nicht nachempfinden“, sagt Petra Steffens. „Ich kannte solche Situationen ja nur aus dem Fernsehen.“ Doch sie merkte, wenn er beim Tanzen ihre Hand drückte, als ob er sich festhalten wollte, und sie sah seine Tränen, ganz plötzlich kamen die auf einer vergnügten Hochzeitsgesellschaft. „Es hat uns nicht voneinander weggebracht“, sagt sie.

Jedes Jahr am 21. August feiern sie Dieters „zweiten Geburtstag“. Petra zündet ihm eine Kerze an, die Tochter gratuliert, ein Kollege vom Seenotkreuzer kommt vorbei. Abends gehen sie zum Jugoslawen essen. Letzten August hat Petra Steffens zum ersten Mal nicht daran gedacht. Es war so viel los, Silberhochzeit und so weiter. Doch Dieter hatte den Tag nicht vergessen. Er trank mit den Männern von der Reederei ein Bier auf seine Rettung.

Dieter Steffens wollte schon immer zur „Gesellschaft“. So nennen die Leute im Dorf die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“, die DGzRS. Die „Gesellschaft“ gehört zur Gesellschaft von Neuharlingersiel, Ostfriesland, und wer zu der einen gehört, gehört meist auch zu der anderen. Zum Bewerbungsgespräch ihres Mannes damals, 1981, hatte man auch Petra eingeladen. Die Zentrale in Bremen wollte wissen, glaubt Petra, ob ihre Beziehung zu Dieter gefestigt ist. Zwei Wochen zu Hause, zwei Wochen an Bord, so ist der Arbeitsrhythmus eines festangestellten Besatzungsmitglieds. Manche Ehe, hieß es, sei schon gescheitert, weil die Frauen die lange Abwesenheit ihrer Männer nicht ertrugen. Und Petra war ja erst 19. Doch die Sorge des Vorgesetzten erwies sich als unnötig. „Für eine Frau ist das auch ganz schön, 14 Tage für sich zu haben“, sagt Petra Steffens. Dieter bekam den Job.

Die Männer auf dem Seenotkreuzer kochten Essen und immer wieder Tee, sie wuschen ab, sie saugten Staub, sie machten das Schiff sauber, dienstags innen, mittwochs außen. 7.30 Uhr Frühstück, 11.30 Uhr Mittagessen, pünktlich auf die Minute genau, 18 Uhr Abendbrot, danach Kartenspielen, Knobeln, Fernsehen. Von 12 bis 15 Uhr schliefen alle vier Retter, egal, ob sie im Hafen lagen oder draußen auf Position. Die Mittagsstunde ist heilig, lernte Petra als Erstes, da durfte sie keinesfalls anrufen.

Manchmal hatten sie 14 Tage lang keinen Einsatz, dann wieder suchten sie 48 Stunden hintereinander nach einem vermissten Schiff. Sie waren Helden auf Stand-by. Nach Ende der Schicht, wenn ein Mensch dem Tod entrissen oder nur der Motor gewartet, das Wetter vermeldet worden war, kehrten sie zurück in ihr Heim aus Backstein, in ein Leben hinter ordentlich geschnittenen Hecken. Zu Hause erzählte Dieter nichts von der Arbeit. Was an Bord passiert, bleibt an Bord, altes Seemannsgesetz. Petra störte es nicht. Wenn die Männer mit ihren Ausdrücken kämen, verstehe sie sowieso kein Wort. Jeden zweiten Donnerstag machten die Frauen Ausflüge ins Leben der Männer. Petra brachte die Kinder und die Schwiegereltern mit und Selbstgebackenes dazu, mal Marmor-, mal Apfelkuchen, und dann machte man es sich gemütlich an Bord. Zu Hause war es nicht immer gemütlich, Petra kellnerte, stand nachts hinterm Tresen, vermietete Gästezimmer. Als der Sohn eine Kehlkopfentzündung bekam, als die Kinder im Krankenhaus lagen, als sie im Schlafzimmer einen Wasserrohrbruch hatten, immer weilte ihr Mann gerade auf dem Meer. Selbst bei der Geburt der Kinder war er nicht bei seiner Familie in Neuharlingersiel, sondern bei der zweiten „Familie“ an Bord. So nannte er die Gemeinschaft auf dem Seenotkreuzer.

Als Dieter hörte, ein Retter werde vermisst, Bernhard Gruben, konnte er nicht mehr still sitzen. Plötzlich waren die Bilder wieder da, er selbst im Wasser, unter Wellen begraben, es schien ihm, als sei es gerade erst passiert, gestern. Längst schon hatte er bei der Gesellschaft gekündigt. Der Grund: Magenkrämpfe vor Angst, beim Einsatz. Und jetzt, nach dieser Nachricht, sollte er in Urlaub fahren? Wo alle Fischkutter hinauswollten, um einen der Ihren zu bergen, wenigstens den Leichnam? Sie habe ihm angeboten, die Abreise zu verschieben, sagt Petra. „Meine Frau meinte, ich müsse weg“, sagt Dieter. Auf jeden Fall fuhr Dieter Steffens am 4. Januar nicht hinaus auf die stürmische See. Er fuhr nach Bayern. „Ich konnte ja sowieso nichts machen“, sagt er. Bei der Beerdigung, später, trug er den Sarg. 45 tote Seenotretter zählt die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger seit ihrer Gründung im Jahr 1865. 1936 war der letzte Neuharlingersieler Rettungsmann im Einsatz umgekommen, fast 30 Jahre vor Petras Geburt. Und dann plötzlich Dieters Unfall, 1990, und Bernhards Tod, 1995. „Das sitzt bei den Frauen“, sagt Dieter Steffens.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 60. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Sandra Schulz und Michael Kerstgens

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, trank noch nie so viel Tee wie in Neuharlingersiel.

Fotograf Michael Kerstgens, Jahrgang 1960, ist seit sechs Jahren Wahlostfriese aus Leidenschaft.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, trank noch nie so viel Tee wie in Neuharlingersiel.

Fotograf Michael Kerstgens, Jahrgang 1960, ist seit sechs Jahren Wahlostfriese aus Leidenschaft.
Person Von Sandra Schulz und Michael Kerstgens
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