Bärennaturen

Ein 1000-Seelen-Dorf im Norden Kanadas lebt mit seinen Eisbären, auch sie knapp 1000 an der Zahl. Beide Einwohnerschaften pflegen eine besondere Symbiose – nicht immer zu aller Nutzen

Jede Nacht wird das Dorf von Schüssen geweckt, morgens fahren Uniformierte Patrouille, das nervöse Geknatter der Hubschrauber begleitet die Tage. Die Männer hier haben früh den Umgang mit Waffen gelernt. Sie trauen sich selbst mehr als den offiziellen Aufpassern, manch einer hat das Gewehr in seinem Pick-up stets griffbereit. Ihre Kinder werden zur Sicherheit mit dem Bus in die Schule gebracht. Hinter dem Neubau, in dem sie sich befindet, beginnt der Strand, unübersichtliches Gelände, die offene Flanke zum Meer. Im Sommer musste dort wieder

einer dran glauben. Fremde, die in der einzigen Autovermietung am Ort ein Fahrzeug buchen, bekommen drohende Worte mit auf den Weg. „Bewegen Sie sich nicht zu weit vom Wagen weg!“ Churchill, die nördlichste Gemeinde der kanadischen Provinz Manitoba, subarktische Siedlung am westlichen Ufer der Hudson Bay, ist ein Krisengebiet. Es gibt keine Straße, die von dort wegführt, nur ein Bahngleis, die Zugfahrt nach Winnipeg dauert zweieinhalb Tage. Fliegen ist teuer, kaum einer aus dem Dorf kann es sich leisten.

Es heißt, im Krieg sterbe als Erstes die Wahrheit. Selten sind die Fronten klar auszumachen, noch schwieriger wird es, wenn sich mehrere Konfliktparteien gegenüberstehen. Der Aufruhr in Churchill hat eine weitere Eigenheit: Er wiederholt sich jedes Jahr und dauert gute sechs Wochen. Sie nennen ihn „bear season“, Bärensaison. Die größten Streitkräfte: 962 Dorfbewohner, etwa 1000 Eisbären, geschätzte 18 000 Touristen. Flankiert von Splittergruppen, die den Ausnahmezustand verschärfen: Journalisten, Umweltorganisationen, Wissenschaftler, Saisonarbeiter, wenn es ganz schlimm kommt, Politiker oder Prominente.

 

 

Kausal betrachtet sind die Eisbären an allem schuld. Die Eisbärenpopulation der Hudson Bay verbringt aus Mangel an Eis den Sommer an Land. Mit sinkenden Temperaturen machen sich die Bären, entsprechend konditioniert, auf den Weg an die Küste. Sie wissen, dass sie bald wieder hinaus können auf das gefrorene Meer, um Robben zu jagen. Sie wissen auch, dass dort, wo der Fluss in die Hudson Bay fließt und die Küstenlinie einen Knick macht, die ersten Schollen festfrieren, weil das Wasser weniger Salzgehalt hat und Wind und Strömung das Eis in jene Ecke schieben. Sie versammeln sich ab Mitte Oktober, sie haben lange gefastet, sind hungrig und vielleicht auch ein wenig ungeduldig und gelangweilt. Das Meer friert in der Regel erst vier bis sechs Wochen später zu. Die Bären verstehen nicht, warum das Menschendorf, das an der Flussmündung liegt, kein guter Ort ist, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Wenn sie in diesem Konflikt eine Stimme hätten, würden sie vielleicht auch einfach sagen: Wir waren als Erste da.

Bei den Menschen ist die Lage komplizierter. Manche sind seit Generationen da, indigene Bewohner des kalten Landes, Inuit, Cree, Dene, Metis, aber auch Nachfahren der Schotten und Franzosen, die im 18. Jahrhundert für die Hudson’s Bay Company mit Pelzen handelten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Churchill ein Stützpunkt der kanadischen und US-Streitkräfte, 6000 Einwohner zählte man zeitweise, bis die Basis Mitte der 1970er geschlossen wurde. Ein paar Armeesprösslinge sind geblieben und ein mächtiger Standortvorteil in der Abgeschiedenheit: ein Flughafen mit einer Landebahn, die einmal die längste Kanadas war.

Der Ort ist bequem zu erreichen für die vielen tausend Touristen, die anreisen, um die Eisbären aus nächster Nähe zu sehen. Ohne die Bären und ihre Besucher könne das Dorf, so sagt es hier jeder, wirtschaftlich nicht überleben. Die Ausgangslage ist also einigermaßen absurd: Man schützt sich und die Gäste vor den Bären, die man schützen muss, um die eigene Existenz zu sichern. Und dann kommen auch noch jedes Jahr Wissenschaftler und malen das Schreckgespenst des Klimawandels an die Wand: In 40 Jahren gebe es das alles sowieso nicht mehr – Eis in der Bay, Bären an Land, ausgebuchte Hotels für sechs Wochen im Jahr. Die Menschen hier sind sich nur in Wenigem einig: Sie wissen, dass man gegen Eisbären unbewaffnet im Ernstfall keine Chance hat. Und alle wollen nur das Beste für sie.

Was wollte man auch anderes sagen, wenn man den weißen Räuber sieht, wie er gemächlich durch die Tundra trottet und das perfekte Bild abgibt? Vor 25 Jahren hat ein Mann aus dem Dorf namens Lance Smith eine Art Supergeländebus aus alten Löschfahrzeugen der Air Force gebastelt, mit dem man in Matsch und Schnee abseits der Straße den Eisbären nahekommen kann. Smith hat seine Fahrzeuge und die Idee gewinnbringend verkauft, er lebt heute in Florida und baut Boote. Seine „Tundra-Buggys“ aber sind das entscheidende Vehikel bei der touristischen Verwertbarkeit der Eisbären. Gut 30 Personen haben in ihnen Platz, sie sind geheizt, es gibt Toiletten und mittags warme Suppe. Tageweise werden die Gäste durch die Wildnis kutschiert, die 30 Kilometer östlich von Churchill beginnt, wo die einzige Straße endet. Die Klientel: Gutsituierte fortgeschrittenen Alters aus aller Welt. Eine fünftägige Eisbärenreise nach Churchill ist unter umgerechnet 3000 Euro pro Kopf nicht zu haben, nur der Flug von Winnipeg ist inklusive. Es ist ein Einmal-im-Leben-Trip für Leute, die schon vieles gesehen haben. In den Souvenirläden von Churchill begrüßen sich Touristen überrascht mit den Worten: „Sind wir uns nicht letztes Jahr auf Safari in Botswana begegnet?“


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mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Martina Wimmer und Peter Ladefoged

Martina Wimmer, Jahrgang 1965, mare-Redakteurin, hofft auf eine Rückkehr nach Churchill, nicht nur wegen der großartigen Menschen, sondern auch wegen der Apfel-Zimt-Schnecken im „Gypsy’s“. Übrigens erzählt sie die Geschichte der Bären von Churchill ein zweites Mal – für junge Leser in No. 6 von aHoi!, dem Kindermagazin von mare.

Joachim Ladefoged, geboren 1970, Fotograf aus Kopenhagen, hat in vielen Krisengebieten gearbeitet, im Kosovo, im Kongo, in Japan nach dem Tsunami. Das Härteste in Churchill war für ihn die Temperatur: minus 17 Grad.

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Vita Martina Wimmer, Jahrgang 1965, mare-Redakteurin, hofft auf eine Rückkehr nach Churchill, nicht nur wegen der großartigen Menschen, sondern auch wegen der Apfel-Zimt-Schnecken im „Gypsy’s“. Übrigens erzählt sie die Geschichte der Bären von Churchill ein zweites Mal – für junge Leser in No. 6 von aHoi!, dem Kindermagazin von mare.

Joachim Ladefoged, geboren 1970, Fotograf aus Kopenhagen, hat in vielen Krisengebieten gearbeitet, im Kosovo, im Kongo, in Japan nach dem Tsunami. Das Härteste in Churchill war für ihn die Temperatur: minus 17 Grad.
Person Von Martina Wimmer und Peter Ladefoged
Vita Martina Wimmer, Jahrgang 1965, mare-Redakteurin, hofft auf eine Rückkehr nach Churchill, nicht nur wegen der großartigen Menschen, sondern auch wegen der Apfel-Zimt-Schnecken im „Gypsy’s“. Übrigens erzählt sie die Geschichte der Bären von Churchill ein zweites Mal – für junge Leser in No. 6 von aHoi!, dem Kindermagazin von mare.

Joachim Ladefoged, geboren 1970, Fotograf aus Kopenhagen, hat in vielen Krisengebieten gearbeitet, im Kosovo, im Kongo, in Japan nach dem Tsunami. Das Härteste in Churchill war für ihn die Temperatur: minus 17 Grad.
Person Von Martina Wimmer und Peter Ladefoged