In Archangelsk, der nordrussischen Stadt am Weißen Meer, ist Fisch nicht irgendein Lebensmittel, er ist die Hauptspeise. Der Dorsch beispielsweise heißt hier „wtoroi chleb“, „das zweite Brot“. Tatsächlich kostet ein gutes Exemplar kaum mehr als ein frischer Laib. Doch auch Heilbutt, Thunfisch oder Hering gehören in der arktischen Hafenstadt zum täglichen Brot. Den Dorsch gibt es in tausend Varianten, vom Trockenfischsnack bis zum Denkmal auf der Hauptstraße. Dort steht er in mannshohen Skulpturen. An seinen Schwänzen und Mäulern reiben die Menschen mit Fingern und Nasen, weil es Glück bringen soll. Niemand nennt die Leute der Region „Archangelsker“. Sie heißen „Treskajedi“, das bedeutet „Dorschesser“. Jeder in Russland weiß, wo die Treskajedi wohnen. So, wie die Briten wissen, wo die „Sauerkrautesser“ hausen.
Nur ist den Dorschessern ihre Bezeichnung kein Schimpfwort. Es ist einfach die Wahrheit. Rund 5000 Rezepte im Zusammenhang mit Fisch soll es in der Gegend geben. Davon beschäftigt sich ein Drittel mit der Zubereitung von Dorsch. Kaum 100 Rezepte existieren dagegen zum Rind. „Vielleicht sind es sogar noch weniger“, meint Olga Schukowa.
Die 62-Jährige muss es wissen. Anderthalb Jahrzehnte ist sie durch die Oblast Archangelsk gereist, einem Gebiet so groß wie Deutschland, Frankreich und die Schweiz zusammen. Sie klopfte an die Türen der Fischer- und Bauernhäuser, meistens öffneten alte Hausfrauen. Und meistens gaben sie ihre seit Generationen überlieferten Rezepte freudig heraus. „Es ging darin aber fast nie um gebratenen Fisch“, sagt Olga. Das hat mit der russischen Provinz zu tun: Die alten Häuser dort haben einen großen Ofen, den man nur zum Backen, Kochen oder Garen nutzen kann. Eine Herdplatte passt nicht mehr auf diesen Ofen. Stattdessen gibt es dort eine beheizte Bettstatt, auf welcher meist der Djeduschka, der Großvater, liegt, um sein Rheuma zu beschwichtigen.
Seit 40 Jahren lehrt Schukowa an der Hochschule für Lebensmitteltechnologie in Archangelsk, ihr Fach heißt „Nördliche Küche“. Sie hat es selbst erfunden, es sei ihre „Mission“, diese Küche am Leben zu erhalten. Leicht verdaulich ist sie nicht. Ein Gericht nennt sich „24-Stunden-Eintopf“ und besteht aus einem zermatschten Schweinskopf, dem pürierter, angesäuerter Schellfisch und Unmengen an Sauerkraut, Senf und Zwiebeln beigemischt werden, bevor das Ganze gegart und dann eingefroren wird. In Scheiben und leicht angetaut aufs Brot gelegt, ist es ein Leckerbissen der Eisangler.
Doch Olga Schukowa kommt gut voran auf ihrer Mission. „Meine Klassen sind immer überlaufen“, sagt sie, „meine Schüler sind jetzt Sterneköche oder Manager in Moskau und Sankt Petersburg. Manche sogar in Sotschi.“ Wohl auch darum bekommt man in dem Schwarzmeer-Nizza, wo die Berühmten und Reichen ihre Villen und Yachten haben, ein typisches Gericht aus Archangelsk, das „Dorsch im Schnee“ heißt. Umgekehrt scheint sich eine exotische Küche im hohen Norden nicht so leicht zu etablieren. Es gibt kaum Lokale ausländischer Kochkunst in Archangelsk. Nicht mal ein McDonald’s-Restaurant gibt es hier. Ein einschlägiger Versuch der Amerikaner scheiterte Mitte der 1990er Jahre. Zwar wurde ein Fast-Food-Laden eröffnet, doch er hielt sich gerade ein paar Monate. Ein Erfolg, den sich Olga selbst und ihrer Mission – die manchmal einer Missionierung gleicht – zugutehält. „Ich leiste Überzeugungsarbeit, wo ich kann.“ Gerade ließ sie rund 1000 Postkarten drucken, auf deren Rückseite typische Gerichte der Gegend stehen.
Mit dabei ihr größter, besser: ihr höchster Erfolg: „Bilip“, eine gebackene Mixtur aus Dorsch, Zwiebeln und Quark. „Ich hatte das Rezept nach Baikonur [Kosmodrom und Synonym für russische Raumfahrt, die Red.] geschickt.“ „Es ist ein altbekanntes Gericht aus dieser Gegend.“ Die Wissenschaftler stellten rasch fest, so Schukowa, dass es „in allen Parametern wie Eiweiß, Vitaminen und Kohlenhydraten optimal“ sei zur Ernährung der Kosmonauten. „Das“, sagt die Kochmissionarin, „hat mich nicht überrascht.“ Was die Menschen am eisigen Polarmeer ernähre, heißt das, taugt auch im Weltall. „So groß sind die Unterschiede ja nicht.“
Fischkulebjaka (Pirogge)
Zutaten (für vier Personen)
15 Gramm Hefe, 150 Milliliter Milch, 400 Gramm Mehl, 50 Gramm Butter, 1 Eigelb, 3 hart gekochte Eier, 4 Schollen, 2 Zwiebeln, 50 Gramm Butter, 2 Zentiliter Sonnenblumenöl, Salz, Pfeffer.
Zubereitung
Schollen 15 Minuten kochen, filetieren und mit Zwiebeln anbraten. Eier klein schneiden, einen halben Teelöffel Salz dazugeben und mit den Schollen zu einer Füllung verkneten. Für den Teig Hefe in Milch auflösen und mit Mehl verrühren. Anschließend mit Butter und Sonnenblumenöl vermengen und eine Stunde gehen lassen. Teig ausrollen, Füllung in die Mitte, Seiten hochschlagen und die Ränder mit den Fingern zusammendrücken. In Backform geben, mit geschlagenem Eigelb bepinseln. Bei 200 Grad 40 Minuten backen. In Archangelsk werden Fischkulebjaki zum Nachmittagstee gereicht.
Maik Brandenburg , Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
Dmitrij Leltschuk wurde 1975 in Minsk/Weißrussland geboren. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er als freier Journalist gearbeitet. Von 2002 bis 2007 hat er an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg Medientechnik mit dem Schwerpunkt Audio-Visuelle Medien studiert. Seit 2007 arbeitet Dmitrij Leltschuk als freier Fotograf für die Zeitschriften wie mare, GEO, Der Spiegel, Die Zeit etc. Sein Schwerpunkt liegt in erster Linie in der Reportagefotografie. Seine Werke wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen in der Schweiz, Deutschland, Italien, Weißrussland und Russland gezeigt.
2012 wurde Dmitrij Leltschuk für Henry Nannen Preis nominiert. Sein Bildband Die Sandmenschen von Schoina. erschien 2013 und 2014 gewann Leltschuk den Greenpece Photo Award mit seiner Bildserie Komische Arktis. 2015 haben gleich vier Spiegel-Titelseiten mit den Fotografien von Dmitrij Leltschuk Lead Awards als beste Titelseite gewonnen und wurden zudem mit dem ADC Award 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien sein zweiter Bildband Schottland im mare Verlag, welcher mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde.
Vita | Maik Brandenburg , Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
Dmitrij Leltschuk wurde 1975 in Minsk/Weißrussland geboren. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er als freier Journalist gearbeitet. Von 2002 bis 2007 hat er an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg Medientechnik mit dem Schwerpunkt Audio-Visuelle Medien studiert. Seit 2007 arbeitet Dmitrij Leltschuk als freier Fotograf für die Zeitschriften wie mare, GEO, Der Spiegel, Die Zeit etc. Sein Schwerpunkt liegt in erster Linie in der Reportagefotografie. Seine Werke wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen in der Schweiz, Deutschland, Italien, Weißrussland und Russland gezeigt. 2012 wurde Dmitrij Leltschuk für Henry Nannen Preis nominiert. Sein Bildband Die Sandmenschen von Schoina. erschien 2013 und 2014 gewann Leltschuk den Greenpece Photo Award mit seiner Bildserie Komische Arktis. 2015 haben gleich vier Spiegel-Titelseiten mit den Fotografien von Dmitrij Leltschuk Lead Awards als beste Titelseite gewonnen und wurden zudem mit dem ADC Award 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien sein zweiter Bildband Schottland im mare Verlag, welcher mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde. |
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Person | Von Maik Brandenburg und Dmitri Leltschuk |
Vita | Maik Brandenburg , Jahrgang 1962, studierte Journalistik und arbeitet als freier Autor, u.a. für mare, Geo, Merian. Leidenschaftlicher Vater und Reportage-Fan. Er lebt mit seiner Familie auf der Insel Rügen.
Dmitrij Leltschuk wurde 1975 in Minsk/Weißrussland geboren. Vor seinem Umzug nach Deutschland hat er als freier Journalist gearbeitet. Von 2002 bis 2007 hat er an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg Medientechnik mit dem Schwerpunkt Audio-Visuelle Medien studiert. Seit 2007 arbeitet Dmitrij Leltschuk als freier Fotograf für die Zeitschriften wie mare, GEO, Der Spiegel, Die Zeit etc. Sein Schwerpunkt liegt in erster Linie in der Reportagefotografie. Seine Werke wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen in der Schweiz, Deutschland, Italien, Weißrussland und Russland gezeigt. 2012 wurde Dmitrij Leltschuk für Henry Nannen Preis nominiert. Sein Bildband Die Sandmenschen von Schoina. erschien 2013 und 2014 gewann Leltschuk den Greenpece Photo Award mit seiner Bildserie Komische Arktis. 2015 haben gleich vier Spiegel-Titelseiten mit den Fotografien von Dmitrij Leltschuk Lead Awards als beste Titelseite gewonnen und wurden zudem mit dem ADC Award 2016 ausgezeichnet. Im selben Jahr erschien sein zweiter Bildband Schottland im mare Verlag, welcher mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde. |
Person | Von Maik Brandenburg und Dmitri Leltschuk |