Ausgeliehener Charme der Freiheit

Adam Smith schrieb sein Grundsatzwerk über die freie Marktwirtschaft im Angesicht des Meeres. Das war kein Zufall

Santa Clara 1997. Am südlichen Ende der San Francisco Bay träumt ein kalifornischer Wirtschaftsprofessor davon, die Welt endlich vom Staat zu befreien. Alles – von der Verbrechensbekämpfung bis zur Sozialfürsorge – will David Friedman den Unternehmern überlassen. Weil, so behauptet er in seinem Buch „The Machinery of Freedom“, Privatfirmen eben alles effizienter erledigen können. Der Markt als wohltuende Maschinerie der Freiheit. Wie auch sein Vater, Nobelpreisträger Milton Friedman, – nur extremer – huldigt David Friedman dem Grundsatz, das uneingeschränkte Walten der Marktkräfte führe stets zum Besten für die Gesellschaft. Wieder einmal hat ein Akademiker den Radikalkapitalismus neu entdeckt. Wieder einmal frei von Selbstzweifeln, wieder einmal frei von Originalität.

Kirkcaldy 1767. Möwenschreie und der feuchte Hauch von Tang. Das feine Lächeln der Geistesabwesenheit umspielt zuweilen die Lippen jenes schmächtigen, 44jährigen Mannes, der im Spätfrühjahr oft Stunde um Stunde auf dem Gartenhügel des Hauses High Street Nr. 220 sitzt und in die funkelnde Ferne schaut. Hinaus aufs Meer. Eine Zeit ausgedehnter Strandspaziergänge mit Selbstgesprächen, bei denen er Ideen sammelt. Adam Smith ist in die schottische Hafenstadt Kirkcaldy heimgekehrt. Während der Jahre zuvor hatte er sich über die Grenzen des Königreichs hinaus einen Namen gemacht, unterrichtete als Professor für Logik in Glasgow und war in Frankreich mit den Aufklärern Voltaire und d’Alembert zusammengekommen. Nun verbringt er den ganzen Sommer im Angesicht des Horizonts. Taucht – so wird berichtet – jeden Tag in die See ein, zu einer Zeit, da das seelenreinigende Meeresbad noch als Privileg entnervter Jung-Lords galt. „Ich fühle mich so überaus glücklich wie vielleicht noch nie in meinem Leben“, schreibt Smith an seinen Freund, den bekannten Philosophen David Hume. Während dieser Monate in der Bucht am Firth of Forth münden die Gedanken des Adam Smith ins „einfache System der natürlichen Freiheit“, wie er es nennt. Nach langen Vorarbeiten entsteht hier, an der Uferstraße seiner Kindheit, der Grundriss zu seinem berühmtesten Werk: „Wohlstand der Nationen“. Niemals wieder nach den Tagen von Kirkcaldy wird ein Ökonom die Vorzüge des ungehindert wirtschaftenden Eigennutzes mit so bezwingender Klarheit preisen. Die „Bibel des Kapitalismus“, das klassische Glaubensbekenntnis zur Freiheit des Marktes, ist geboren. An der Küste.

Mal als verborgener Einflüsterer, mal als namentlicher Kronzeuge erscheint seither immer wieder der Geist des kleinen Schotten mit dem Dreispitz, wenn es zu beweisen gilt, gesellschaftliche Beziehungen ließen sich am besten durch frei gestaltete Preise regeln. Nach den achtziger Jahren der Reaganomics und des Thatcherismus mit ihrer Privatisierung und Deregulierung schwappte die Welle der „Smithomanie“ über Atlantik und Kanal auch nach Kontinentaleuropa. Soziale Sicherungssysteme und staatliche Grundversorgung gelten jetzt zusehends als wirtschaftliche Fessel. Überspitzt lautet das Credo marktradikaler „Globalisierer“ in den Neunzigern: Freiheit ist ein Wachstumselixier, die Welt eine Ware und das Dasein die einzige Gelegenheit, möglichst unbehelligt Geld zu verdienen. Mit dem humanistischen Gelehrten und warmherzigen Küstenmenschen Adam Smith hat das reichlich wenig zu tun, für diese Vereinnahmung ist er der ungeeignete Mann aus einer versunkenen Epoche.

Am 5. Juni 1723 wird Adam Smith in Kirkcaldy getauft, sein exaktes Geburtsdatum ist unbekannt. Von seinem Fenster aus in der High Street beobachtet der heranwachsende Junge das Treiben der Seeleute und Fischer, sieht Segelschiffe mit Erzen beladen aus Skandinavien und den Niederlanden ankommen, andere die Kais mit Salz und Kohle an Bord verlassen. Der Sog des Meeres auf den kleinen Adam ist so gewaltig, dass er dieses persönliche Erleben Jahrzehnte später sogar in seinem Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“ erwähnt. „Oftmals scheut sich eine besorgte Mutter, ihren Sohn in die Schule einer Hafenstadt zu schicken, da ihn der Anblick der Schiffe und die Erzählungen der Matrosen dazu verführen könnten, zur See zu gehen.“ Die Geschäftigkeit des Hafens zieht auch den Autor von „Robinson Crusoe“, Daniel Defoe, in Bann, der Kirkcaldy um 1710 besucht. Beeindruckt äußert er sich über die Salzsiedereien und insbesondere die Kohlegruben, die mitunter so dicht am Wasser ausgehoben waren, dass man „glauben konnte, die Flut mache es unmöglich, in ihnen zu arbeiten“. Anfang des 18. Jahrhunderts ist Kirkcaldy ein Prototyp der frühindustriellen Handelsstadt. Mit all ihrem Elend.

Das bessere Leben naht in Kirkcaldy unter geblähten Segeln von jenseits des Horizonts: Dreimaster aus Königsberg oder aus Amsterdam. Ihr geladenes Eisen dient dem Schiffbau, die Schiffe wiederum einträglichen Geschäften. Wie nirgendwo sonst ist Handel für das Inselreich Großbritannien gleichbedeutend mit Seefahrt und das freie Fließen der Warenströme wichtigste Voraussetzung für eine prosperierende Wirtschaft. Kaum etwas entgeht Adam Smith, dem Schüler mit der schwächlichen Konstitution, der sich schonen muss und nicht herumtoben darf. Gleichwohl wird er als hitziger, aber auch als träumerischer Junge beschrieben, der wegen seiner Großzügigkeit sehr beliebt ist. Dass Smith so viele Dinge „bereits durch Kinderaugen gesehen hatte, macht einen besonderen Reiz seiner Schriften aus“, sagt Philosophiehistoriker Gerhard Streminger in seiner anschaulichen Monographie über den Schotten. Die bunte Vielgestalt der Händler, Matrosen und Arbeiter, die zyklische Kraft der vor- und zurückflutenden See, eine grenzenlose Wasserfläche, die hin zu verheißungsvollen Reichtümern führt. Diese Eindrücke ungebremster Vitalität am Rande des Meeres setzen sich im jungen Adam Smith frühzeitig fest. Und für das kränkliche Kind tragen sie alle den Stempel der Sehnsucht.

Das Grundthema des erwachsenen Adam Smith wird denn auch die Freiheit. „Nichts tendiert so sehr dahin, die Menschen zu verderben wie Abhängigkeit“, sagt er. Früh wusste er um die Leiden und Hoffnungen der Grubenarbeiter Kirkcaldys, die Eigentum der Landbesitzer sind: Wer einmal den Kohlekorb aus dem Schacht am Meer hievte, durfte nie mehr eine andere Arbeit annehmen und wechselte mit der Grube den Besitzer. In Vorlesungen erzählt Smith, wie die Kohlearbeiter nach Newcastle flüchten, „obwohl sie dort weniger verdienen, wo sie aber frei sind“.

Doch die Idee von der Freiheit, die Adam Smith seinen Jüngern hinterlässt, meint vielmehr eine ökonomische als eine politische Freiheit. Allerdings ist sie der Gerechtigkeit untergeordnet. Ganz pragmatisch zielt sie auf eine wachsende Zahl materieller Güter, damit schließlich alle frei von Armut werden. „Jeder Mensch hat, so lange er nicht die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit, sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen, und sowohl seinen Gewerbefleiß wie sein Kapital mit dem Gewerbefleiß und den Kapitalien anderer Menschen oder anderer Klassen von Menschen in Konkurrenz zu bringen“, lautet eine Schlüsselpassage in „Wohlstand der Nationen“. Der Staat soll sich möglichst heraushalten, soll den Warentausch nicht durch Zollschranken und Steuern behindern, soll keine Handelsmonopole fördern, sondern den Markt ohne Eingriffe gedeihen lassen. Dann werde die „Unsichtbare Hand“ – Smiths populärste Metapher – schon dafür sorgen, daß der Eigennutz der „Wirtschaftssubjekte“, der einzelnen Menschen eben, sich zum Vorteil aller wende. Mit der Arbeitsteilung, durch die immer mehr Menschen ihre Talente verwirklichen könnten, wachse die Produktivität und mit der Produktivität der allgemeine Wohlstand. Vor allem in Meeresnähe sieht der Brite Smith die besten Handelsbedingungen dafür, dass auf diese Weise große Kulturen entstehen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 5. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Thomas Worm

Thomas Worm, Jahrgang 1957 und Diplomvolkswirt, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik.

Mehr Informationen
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957 und Diplomvolkswirt, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik.
Person Von Thomas Worm
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957 und Diplomvolkswirt, ist mare-Redakteur für Wirtschaft und Politik.
Person Von Thomas Worm