Aus dem Straflager ans Meer

Einer muslimischen Dissidentin gelingt die Flucht aus China nach Schweden. Hier hilft ihr das Meer beim Bewältigen des Traumas

Nach Maos Besatzung 1949 benannte die Kommunistische Partei (KP) Ostturkestan in Xin­jiang („Neue Grenzen“) um. Im Zug massenhafter Ansiedlung chinesischer Bürger machte Peking daraufhin die seit Jahrhunderten dort ansässigen Uiguren, Kasachen und anderen muslimischen Ethnien zur Minderheit im eigenen Land und unterdrückte sie gewaltsam. Nach vereinzelten Protesten und Anschlägen überzog die KP das Land mit einem Netz an Lagern. Seit 2016 leiden Muslime unter willkürlichen Masseninhaftierungen, Folter, erzwungenen Sterilisa­tionen, medizinischen Versuchen und Vergewaltigungen. Die Liste der Gräuel ist lang, die Beweise sind erdrückend. Länder wie die USA beurteilen diese Verbrechen als Genozid. Unverdrossen jedoch sprechen Chinas Kader von „freiwilliger Teilnahme“ der Muslime in „Berufsbildungs­lagern“, obwohl geleakte Dokumente das Gegenteil zeigen. „Wer flieht, wird erschossen“, heißt es darin. Als eine der wenigen Überlebenden eines Lagers gelang der kasachischen Staats­beamtin Sayragul Sauytbay die Flucht aus dem größten Überwachungsstaat der Welt nach Schweden. Die mittlerweile mehrfach preisgekrönte Menschenrechtlerin betrachtet das Meer vor ihrer Haustür als Symbol für Freiheit. 

Alexandra Cavelius: Mehrmals bist du den tödlichen Fängen der KP Chinas knapp entronnen, bis dir mit deiner Familie zuletzt die Flucht nach Trelleborg in Schweden gelungen ist. Erinnerst du dich an das Gefühl, wie ihr zum ersten Mal im Juni 2019 in eurem Leben in Freiheit wart? 

Sayragul Sauytbay: Das vergesse ich nie! Vorsichtig haben meine beiden Kinder, mein Mann und ich die Gegend erkundet. Da rief mein Mann plötzlich: „Hinter dieser Häuserreihe ist das Meer!“ – „Woher weißt du das?“, fragte ich verwundert.„Ich rieche es“, antwortete er. Da lachte ich. Denn wie sollte ein Mann das riechen, der aus der Nähe der Landeshauptstadt Urumqi stammt – einer Stadt, die weit vom Meer entfernt ist? Wir sind gleich losgelaufen.

Du kanntest das Meer nur aus Büchern. Wie war dein erster Eindruck? 

Wenn man wie wir aus dem größten Überwachungsstaat weltweit kommt, fühlt sich das an, als kröche man aus einem tiefen Loch, voller Finsternis, mit einem ständigen Gefühl im Hals, zu er­sticken. Überall Kameras und Spione. Auf Schritt und Tritt beobachtet. Sogar in der eigenen Wohnung. Und dann eröffnet sich mit einem Mal diese unendliche Weite unter dem Himmel vor einem, überwältigend ist dieses Gefühl der Freiheit … Das Wasser war so kristallklar, dass man auf dem Grund jede Muschel gesehen hat. Und die Kinder sind in ihren kurzen Hosen immer tiefer hineingesprungen. Es war das erste Mal, dass ich meine Kinder so glücklich gesehen habe. 

„Die KP raubt unseren Kindern ihre Kindheit.“ So hast du den Druck beschrieben, der bereits auf den Kleinsten in deiner Heimat lastet. 

Muslimische Kinder müssen sehr schnell erwachsen werden. Meinem Sohn hatte die Lehrerin im Kindergarten mit Klebeband den Mund zugepappt, weil er in seiner Muttersprache Kasachisch gesprochen hatte. Nur Han-Chinesisch ist erlaubt. Schon Dreijährige sind militärischem Drill und Gehirnwäsche ausgesetzt.

Trotz dieser Härte haben deine Kinder sich nicht brechen lassen. 

Sie haben sich sehr schnell integriert und auch Schwimmen gelernt. Das zeigt, wie stark und resilient Kinder sind. Das macht mir große Hoffnung auf eine bes­sere Zukunft. Mit der Zeit habe auch ich mich tiefer ins Wasser gewagt und mich bis zum Hals hineingesetzt. Das Wasser wirkt wie ein Zauber, reinigt mich vom Schmutz der Erinnerungen, zieht das Gift aus mir heraus – und heute schwimme sogar ich durch die Wellen. 

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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Alexandra Cavelius

Über Xinjiang hat die freie Journalistin Alexandra Cavelius, Jahrgang 1967, aus Kaufering bereits drei Bücher geschrieben. Die Biografie über Sayragul Sauyt­bay, „Die Kronzeugin“, ist ein Bestseller, dem der gemeinsame Titel „China-Protokolle“ folgte.

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Vita Über Xinjiang hat die freie Journalistin Alexandra Cavelius, Jahrgang 1967, aus Kaufering bereits drei Bücher geschrieben. Die Biografie über Sayragul Sauyt­bay, „Die Kronzeugin“, ist ein Bestseller, dem der gemeinsame Titel „China-Protokolle“ folgte.
Person Von Alexandra Cavelius
Vita Über Xinjiang hat die freie Journalistin Alexandra Cavelius, Jahrgang 1967, aus Kaufering bereits drei Bücher geschrieben. Die Biografie über Sayragul Sauyt­bay, „Die Kronzeugin“, ist ein Bestseller, dem der gemeinsame Titel „China-Protokolle“ folgte.
Person Von Alexandra Cavelius