Aus Alge wird Felge

Diatomeen, winzige Kieselalgen, sind Meister im Bau stabiler und doch leichter Strukturen. Das ist auch der Autoindustrie nicht entgangen

Der Ozean – unendliche Weiten. Im lichtdurchfluteten Wasser nahe der Oberfläche schwebt eine kleine Kieselalge und geht wie jeden Tag ihrem Lebensunterhalt, der Photosynthese, nach. Doch dem Idyll droht ein jähes Ende. Mit kräftigen Schlägen seiner lang ausgezogenen Antennen nähert sich ein Ruderfußkrebs. Die Alge gerät in den Strudel seiner Mundwerkzeuge, schon schließen sich kräftige Mandibeln um den grünen Einzeller. Doch bei der kleinen Kieselalge beißt der Krebs auf Glas. Aus diesem durchsichtigen Material – Chemiker sprechen von Silikat – besteht das äußerst widerstandsfähige Außenskelett, mit dem die Algenzelle umhüllt ist. Nachdem er einige Male vergeblich auf der Alge herumgekaut hat, spuckt der Krebs sie wieder aus und zieht seines Weges.

Minidramen wie dieses spielen sich in den Weltmeeren in jeder Sekunde milliardenfach ab. Denn die nur Bruchteile eines Millimeters messenden Kieselalgen sind die häufigsten pflanzlichen Einzeller des Meeres. Ruderfußkrebse wiederum gelten als wichtigste Pflanzenfresser im Plankton des offenen Ozeans und damit als ihre ärgsten Feinde.

Ob rund, dreieckig, lang gezogen oder sternförmig, trotz aller Vielfalt im Detail gleicht sich der Grundbauplan aller Diatomeen, wie Kieselalgen auch genannt werden. Ihr Panzer besteht wie eine Camembertschachtel aus zwei Hälften, deren kleinere genau in die größere passt. Das führt zu Problemen bei der Vermehrung, die bei Kieselalgen durch die Teilung der Zelle in zwei Tochterzellen vonstatten geht. Dabei können die Algen aber immer nur eine kleinere Schalenhälfte neu synthetisieren; die Nachkommenschaft wird also von Generation zu Generation zwergwüchsiger. Wird schließlich eine kritische Größe unterschritten, so verlassen die Algenzellen in einem Befreiungsschlag ihre Schutzhülle, nutzen ihre Nacktheit zur Vereinigung mit einem Geschlechtspartner und zeugen große Dauersporen, aus denen eine neue Generation von Schalenträgern entsteht. Auch wenn die starre Schutzhülle aus Silikat für Wachstum und Vermehrung eher hinderlich ist – im Kampf gegen das Gefressenwerden verleiht sie den Diatomeen einen entscheidenden Vorteil.

Die Evolution steht allerdings auch bei den Fressfeinden der Alge nicht still. So hat sie einige Arten von Ruderfußkrebsen mit panzerbrechenden Beißwerkzeugen ausgestattet, deren Kauflächen extrem verstärkt sind – ebenfalls mit Hilfe von Silikat. Dieses evolutionäre Wettrüsten dauert bereits seit rund 100 Millionen Jahren und dürfte der Grund für die fantastische Formenvielfalt der Kieselalgen sein, die mit einer unüberschaubaren Anzahl von Arten (Literaturangaben schwanken zwischen 6000 und gut 100.000 Arten) Ozeane und Süßgewässer der Erde bevölkern. Allerdings konnten sich die Algen im evolutionären Abwehrkampf gegen ihre Feinde nicht einfach mit immer dickeren Panzern umgeben. Denn Glas ist schwerer als Wasser und würde sie mit zunehmendem Gewicht immer stärker in lichtlose Tiefen ziehen. Auch der lebensnotwendige Austausch mit dem umgebenden Wasser erfordert leichte, durchlässige Rüstungen, durch die Nährstoffe, Atemgase und Stoffwechselprodukte möglichst ungehindert passieren können.

„In der Konstruktion ihrer Panzer stehen Kieselalgen also vor dem Dilemma zwischen einer möglichst leichten und trotzdem hochstabilen Bauweise“, sagt Christian Hamm vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Diese Konstruktionsprinzipien für leichte und doch stabile Strukturen will sich der Biologe bei den Algen abgucken und auf technische Anwendungen übertragen. „Die Gründe für Leichtbaulösungen sind in der Technik dieselben wie in der Natur. In beiden Fällen geht es entweder darum, teure Werkstoffe einzusparen oder das Gewicht zu reduzieren. Oder beides.“

Bionik heißt die ingenieurtechnische Disziplin, die dem Menschen über Jahrmillionen gesammelte Erfahrungen der Evolution nutzbar machen will. Und Diatomeen, da ist sich Hamm sicher, sind für bionische Anwendungen besonders geeignet.

Diese scheitern nämlich oft daran, dass sich nicht jede Konstruktion, die im Mikrokosmos hervorragend funktioniert, auf die Größe menschlicher Technik ausdehnen lässt. Das zeigt etwa das Beispiel der Hummel. Während die Fläche ihrer Flügel und damit deren Auftrieb mit zunehmender Größe nur quadratisch ansteigt, wachsen ihr Körpervolumen und damit ihr Gewicht mit der dritten Potenz. So faszinierend die Biomechanik des Insektenflugs auch sein mag – ein bionisches Flugzeug, das sich den Flügelschlag der Hummel zum Vorbild nähme, wäre wegen Übergewichts zum Scheitern verurteilt.


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mare No. 57

No. 57August / September 2006

Von Georg Rüschemeyer

Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Diatomeen kennt er noch aus seiner Diplomarbeit in Gewässerökologie. Damals war er froh, nur Insektenlarven bestimmen zu müssen – seine an Kieselalgen arbeitenden Kollegen verzweifelten regelmäßig an der Aufgabe, Hunderte Arten anhand kleinster Merkmale ihrer Gehäuse zu unterscheiden.

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Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Diatomeen kennt er noch aus seiner Diplomarbeit in Gewässerökologie. Damals war er froh, nur Insektenlarven bestimmen zu müssen – seine an Kieselalgen arbeitenden Kollegen verzweifelten regelmäßig an der Aufgabe, Hunderte Arten anhand kleinster Merkmale ihrer Gehäuse zu unterscheiden.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, ist Biologe und lebt als freier Wissenschaftsjournalist in Leipzig. Diatomeen kennt er noch aus seiner Diplomarbeit in Gewässerökologie. Damals war er froh, nur Insektenlarven bestimmen zu müssen – seine an Kieselalgen arbeitenden Kollegen verzweifelten regelmäßig an der Aufgabe, Hunderte Arten anhand kleinster Merkmale ihrer Gehäuse zu unterscheiden.
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