Mitten im Südpolarmeer fand der Kapitän Zeit für seine Lieblingsbeschäftigung, die Mathematik. Als sein Schiff an einem riesigen Tafeleisberg entlangfuhr, schätzte er dessen Größe und berechnete, dass er geschmolzen genau 5 128 937 664 264 Pud Wasser ergebe (das sind 84 080 943 516 Tonnen) und dass diese Menge ausreiche, alle 845 Millionen Menschen auf der Erde 22 Jahre und 86 Tage lang mit Trinkwasser zu versorgen. Der gute Mann hatte keinen Taschenrechner zur Hand; es ist das Jahr 1820.
Weniger gewitzt zeigte sich Fabian Bellingshausen indes in der Frage, wie dieser Eisberg überhaupt entstanden war – dazu später. Maximal mit Proviant, darunter vier Tonnen Wodka, beladen, hatten seine beiden Expeditionsschiffe am 15. Juli 1819 den Hafen von Kronstadt bei Sankt Petersburg verlassen. Die „Wostok“ unter Bellingshausens Kommando war über Kiel 36 Meter lang und zehn Meter breit; der höchste der drei Masten ragte 41 Meter über die Wasserlinie auf. Das Begleitschiff „Mirni“ unter Michail Lasarew war geringfügig kleiner. Auf der „Wostok“ fuhren 116 Mann, auf der „Mirni“ 74. Zum Team gehörten der Künstler Pawel Michailow, der Zeichnungen und Gemälde anfertigte, und ein Pope, der unter anderem die Aufgabe hatte, die zu erwartenden Seebestattungen zu vollziehen. Dass letztlich nur drei Besatzungsmitglieder zu Tode kamen, darf als Erfolg gelten.
Fabian Gottlieb Bellingshausen zählt zu der langen Reihe von Deutschbalten, die es im zaristischen Russland zu Ansehen als Seefahrer und Entdecker gebracht haben, darunter Otto von Kotzebue, Adam und Paul von Krusenstern und Ferdinand von Wrangel. Alle entstammten der deutschen Oberschicht im Baltikum. Die Familie Bellingshausen jedoch scheint nicht adlig gewesen zu sein, jedenfalls nach den Recherchen des Oxforder Historikers Rip Bulkeley, der im vergangenen Jahr eine ausführliche und lesenswerte Monografie über Bellingshausens Expedition veröffentlicht hat („Bellingshausen and the Russian Antarctic Expedition, 1819–21“, Palgrave Macmillan, London). Ursprünglich, so der britische Forscher, waren die Bellingshausens als „Billingshusens“ Kaufleute in Lübeck; einer von ihnen siedelte im 16. Jahrhundert auf die livländische Insel Ösel über, die heute unter dem Namen Saaremaa zu Estland gehört. 1721 kam das Baltikum unter russische Herrschaft.
Wohl weil Fabian, 1778 geboren, mit sechs Jahren seinen Vater verlor, geriet die Familie in Nöte und konnte erwirken, dass er im Alter von zehn in die Seekadettenakademie in Kronstadt eintreten durfte. Erst dort lernte er die Sprache der herrschenden Macht; seine lutherische Konfession behielt er aber zeit seines Lebens bei und offenbar auch einen leichten deutschen Akzent. Den Vorschriften entsprechend, musste er beim Eintritt in die Offizierslaufbahn einen orthodoxen Vornamen annehmen und wählte Faddej. Weil die Russen zudem seinen Nachnamen schwer aussprechen konnten, nannte man ihn dort (und nennt ihn noch heute) Faddej Faddejewitsch Bellinsgauzen.
Der junge Bellingshausen diente in den Napoleonischen Kriegen und nahm 1803 bis 1806 an der ersten russischen Weltumsegelung unter Adam von Krusenstern teil. Nach mehreren Jahren als Kapitän in der Schwarzmeerflotte kam ihm dann ein Zufall zu Hilfe. Der vorgesehene Leiter der Südpolarexpedition sagte wegen Altersbeschwerden ab und empfahl Bellingshausen.
Zar Alexander I. gab ihm klare Vorgaben für die Expedition: so weit wie möglich nach Süden vordringen, dabei Inseln oder Festland entdecken. Jeweils in den Südsommermonaten Dezember bis Februar zweier aufeinanderfolgender Jahre sollte er rundum die antarktischen Gewässer befahren. In dem Dreivierteljahr dazwischen hatte er, abgesehen von zwei Aufenthalten in Sydney, eine Schleife durch den Südpazifik zu drehen und auch dort Inseln zu entdecken. Nur ein einziger Seefahrer hatte vorher Ähnliches unternommen: James Cook auf seiner zweiten Reise 1772 bis 1775. Bellingshausen, der Cook verehrte, studierte dessen Berichte genau und entwarf seine Route als Ergänzung. Da Cook bei seinen Vorstößen in den Süden außer ein paar Inseln nichts entdeckt hatte, wollte der Deutschbalte vor allem jene Regionen befahren, die der Brite ausgelassen hatte.
Bellingshausen ist stark beeinflusst von den Werten der Aufklärung und Rousseaus Auffassung der „edlen Wilden“. Seinen Matrosen erspart er bei Vergehen die Peitsche, Maori und Südseeinsulanern tritt er ohne Herablassung gegenüber, bewirtet und beschenkt sie aufs Freundlichste. Nur als die Bewohner von Rakahanga nach der Begrüßungszeremonie unvermittelt Korallenbrocken auf die Besucher werfen, fühlt er sich getäuscht und lässt das Hinterteil eines Anführers mit Schrot beschießen.
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Frank Gerbert, Jahrgang 1955, Journalist und Buchautor in München, wunderte sich auf einer Alaskareise über deutschbaltische Orts- und Bergnamen und begann, sich für die Seefahrer im Auftrag des Zaren zu interessieren.
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Vita | Frank Gerbert, Jahrgang 1955, Journalist und Buchautor in München, wunderte sich auf einer Alaskareise über deutschbaltische Orts- und Bergnamen und begann, sich für die Seefahrer im Auftrag des Zaren zu interessieren. |
Person | Von Frank Gerbert |
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Vita | Frank Gerbert, Jahrgang 1955, Journalist und Buchautor in München, wunderte sich auf einer Alaskareise über deutschbaltische Orts- und Bergnamen und begann, sich für die Seefahrer im Auftrag des Zaren zu interessieren. |
Person | Von Frank Gerbert |