Attacke

Hitchcocks Zuschauern blieb vor Angst die Luft weg – seinen Schaupielern auch. Die Schnabelhiebe waren echt

In Cornwall an der britischen Küste sind Möwen allgegenwärtig. Deutlich mehr Gasthäuser heißen „The Seagull“ oder „Seagull Inn“ als bei uns „Zur Post“ oder „Zum Ochsen“. Die englische Schriftstellerin Daphne du Maurier liebte es, stundenlang spazieren zu gehen, allein mit Wind und Nebel und den Möwen. Anfang der fünfziger Jahre war du Maurier berühmt, vor allem dank ihrer Romane „Rebecca“ und „Jamaica-Inn“, die beide von Alfred Hitchcock verfilmt worden waren. Im Winter 1951 beobachtete sie einen Bauern, der auf dem Feld versuchte, die Möwen zu verscheuchen. Die Vögel kreisten über dem Mann und stachen zuweilen auf ihn nieder. Daraus entstand „Die Vögel“. Wenn sie geahnt hätte, was aus dieser Kurzgeschichte werden würde, hätte sie vielleicht den Bauern und die Möwen vergessen.

Eine der Stärken der Geschichte ist die Lautlosigkeit. Die Silber- und Mantelmöwen sind still, als sie einen Kriegsveteranen und seine Familie in Cornwall angreifen. Niemand hört die Vögel. Später belagern auch Dohlen, Blaumeisen, Finken das kleine Haus. Riesige Schwärme ziehen vom Meer ins Landesinnere, London kapituliert. Die Geschichte endet ohne Hoffnung, den nächsten Tag wird die Familie wohl nicht überleben.

Als Alfred Hitchcock sich Anfang der sechziger Jahre entschloss, „Die Vögel“ zu verfilmen, war diese Stille das Erste, was er tilgte. Hitchcock kannte die Geschichte aus einem seiner Magazine, und er hatte eine Schlagzeile aus Santa Cruz in Kalifornien in Erinnerung: „Seabird Invasion Hits Coastal Homes“. Er mochte Vögel als unheimliche Wesen. In „Psycho“, seinem vorherigen Film, künden ausgestopfte Krähen in Bates Motel vom Wahnsinn seines Besitzers. Zu seinem Ausstatter Robert Boyle sagte er: „Wir schmeißen alles weg und behalten nur die Vögel.“ Daphne du Maurier hasste den fertigen Film, besonders, dass Cornwall fehlte.

Boyle hatte als visuelles Schema ein Gemälde Edvard Munchs vor Augen: „Der Schrei“. Es ist Hitchcocks aufwendigster und auch lautester Film. Die künstlichen, mit einem Trautonium aus Deutschland hergestellten Vogelschreie und anderen Töne prägen die Stimmung entscheidend. Das Drehbuch spielte in Bodega Bay, einem kleinen Nest nördlich von San Francisco. Hauptdarstellerin sollte nun eine Frau sein. Eine blonde Frau natürlich.

Tippi (Nathalie) Hedren war ein New Yorker Fotomodell, das bisher nur in Werbespots mitgespielt hatte. Sie hatte Tiere immer geliebt. Hitchcock nahm sie unter Vertrag. „Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte oder den Korridor auf und ab laufen“, erzählt sie. Bei einem Abendessen mit Hitchcock und seiner Frau schenkte er ihr feierlich eine Brosche: drei Möwen aus Gold, mit Saatperlen. Er sagte: „Wir wollen, dass Sie die Melanie in ,Die Vögel‘ spielen.“ Tippi Hedren weinte. „Es war ein unglaublicher Abend“, sagt sie heute und lächelt. „Und dann begann die Arbeit.“

Der Regisseur bildet Tippi Hedren detailbesessen aus, er erklärt ihr wochenlang den gesamten Prozess des Filmemachens, diskutiert das Drehbuch und ihre Auftritte. Er sucht das grüne Kostüm aus, das sie den Film über trägt. Hitchcock sagt ihr aber auch, wann sie wohin gehen darf, was sie privat anziehen und was sie sagen soll, rund um die Uhr. Er will sie kontrollieren. Sogar ihren Namen ändert er. Hitchcock lässt vertraglich festlegen, dass Tippi – von der schwedischen Koseform Tupsa, Herzchen – nur in Anführungszeichen geschrieben werden darf. Unter den Leidensgeschichten der Hitchcock-Blondinen kann sie sicherlich die dickste Akte vorweisen.

Monatelang proben die Filmleute die Tricks. Kein Beteiligter vergisst anzumerken, dass alle Vögel heute aus dem Computer kämen. Im Frühjahr 1962 gibt es falsche Möwen, echte und trainierte. Beim ersten Angriff auf Tippi Hedren im Film fliegt eine falsche Möwe an einem Draht. Als der Vogel über dem Kopf ist, platzt auf Knopfdruck eine Blutkanüle, eine Haarsträhne löst sich. Überhaupt ist die Frisur von Tippi Hedren betonhart wie ihr Gesichtsausdruck in Panik. Man wundert sich, dass die Möwen nicht abprallen.

Die Dreharbeiten sind Lektionen in Grausamkeit. Echte Möwen werden den Kindern im Nacken festgebunden, damit sie heftig flattern. Ein paar Mal fliegen Vögel direkt in die Kamera. Robert Boyle erzählt: „Wir merkten, dass wir Möwen trainieren konnten, Futter zu jagen. Sie sind gierige Tiere, man konnte also Fleisch hinter der Kamera oder obendrauf befestigen, und sie flogen in die Optik.“

Der Vogeltrainer heißt Ray Berwick. Er hatte es geschafft, einen Papagei aus Hongkong, der nur Chinesisch sprach, für eine Fernsehserie auf Englisch umzuschulen. Berwick trainiert fast 1000 Vögel, vor allem Möwen und Krähen. Die ausgebildeten Vögel können Sturzflüge auf Menschen machen und auf Köpfe einhacken. Hedren meint: „Sie konnten nicht freigelassen werden, weil ihnen schlechte Dinge beigebracht worden waren.“ Berwick liebte seine Tiere. Einmal verfolgte er stundenlang eine Möwe, die davongeflogen war. Er hatte ihre Krallen zusammengebunden, sie wäre verendet.

Wenn eine Möwe beim Generalangriff auf die Stadt wie ein Kamikaze gegen eine Telefonzelle prallt, dann ist das natürlich auch ein falscher Vogel. Diese Szene wird mit der vielleicht großartigsten, sicher unheimlichsten Einstellung von „Die Vögel“ eingeleitet. Es ist ein Blick aus dem Himmel: Regisseur und Gott, in dieser Reihenfolge, blicken auf das Chaos auf der Erde. Dann schweben vom oberen Bildrand Möwen ins Blickfeld, erst eine, dann zwei, drei, immer mehr, bis ein Schwarm sich anschickt, alles Leben zu vernichten.

Tatsächlich ist „Die Vögel“ ein tiefsinniger Film über Verstellung und Lüge und Sünde, und Melanie Daniels, die Heldin mit Vorleben, steckt nicht zufällig mitten darin. Die Vögel sind Sendboten: Stellvertreter einer Moralphilosophie, Alptraumwesen wie auf Gemälden von Hieronymus Bosch. Bei Daphne du Maurier ist noch das Wetter schuld an ihrem Verhalten. Hitchcocks Vögel schreien gegen die Moderne an. Ihre Grausamkeit ist ungleich wirksamer.

Die katholische Mischung aus Kasteiung, Katharsis und Kino erreicht ihren Höhepunkt in der letzten Woche. Nur eine Szene wird gedreht: Melanie entdeckt auf dem Dachboden die Vögel, und alle fliegen auf sie, um sie zu töten. Man hatte Tippi Hedren weisgemacht, es würden mechanische Vögel benutzt. Am Montagmorgen gesteht ihr der Regieassistent: „Sie funktionieren nicht. Wir nehmen echte Vögel.“

Hedren wird bleich. „Ich hatte die Vogeltrainer mit ihren langen Lederhandschuhen gesehen und Kratzer, die sie von den Vögeln hatten.“ Sie geht zum Set, und dort warten drei riesige Kisten mit Möwen und Krähen. Darum herum ist ein Käfig gebaut. Die Requisiteure schleudern sie in ihre Richtung, und die Kamera läuft, am Montag, am Dienstag, am Mittwoch, immer weiter. Hitchcock will eine Szene mit schnellen Schnitten. Immer mehr Blut und Wunden werden Hedren angeschminkt.

Und immerzu Vögel. Sie rudert mit den Armen, wehrt die Tiere längst in echter Panik ab. Die Ergebnisse stellen nicht zufrieden. Gummibänder werden durch ihr Kostüm gezogen und Möwen daran befestigt. Sie sollen hacken. Sie hacken den ganzen Tag. Ein Vogel kratzt sie direkt unterm Auge. Da endlich, nach fünf Tagen, schreit Tippi Hedren „Genug!“, und es ist zu Ende.

Sie sitzt auf der Bühne und weint. Sie weint still. Sie hat keine Kraft mehr. Tippi Hedren weiß nicht, wie sie das Wochenende verbracht hat. Am Montagmorgen will der Maskenbildner sie in ihrer Garderobe wecken. Er schafft es nicht. Sie liegt auf dem Sofa, blickt starr in die Ferne wie die Figur, die sie 20 Wochen lang gespielt hat. Man bringt sie in ein Krankenhaus. „Totale Erschöpfung“, sagen die Ärzte. Eine Woche bleibt sie dort. Hitchcock beendet die Dreharbeiten, ein Double springt ein.


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, ist Feuilletonredakteur der Tageszeitung Die Welt. Als Junge sah er Bud Spencer im Kino, der behauptete „Ich spreche Möwisch“ und dann seltsam schrie. Seitdem hatte er die Vögel aus den Augen verloren. Zuletzt schrieb er in mare No. 51 über Netzstrümpfe.

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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, ist Feuilletonredakteur der Tageszeitung Die Welt. Als Junge sah er Bud Spencer im Kino, der behauptete „Ich spreche Möwisch“ und dann seltsam schrie. Seitdem hatte er die Vögel aus den Augen verloren. Zuletzt schrieb er in mare No. 51 über Netzstrümpfe.
Person Von Holger Kreitling
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, ist Feuilletonredakteur der Tageszeitung Die Welt. Als Junge sah er Bud Spencer im Kino, der behauptete „Ich spreche Möwisch“ und dann seltsam schrie. Seitdem hatte er die Vögel aus den Augen verloren. Zuletzt schrieb er in mare No. 51 über Netzstrümpfe.
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