Atlantis – das Leben im Untergang

In einem riesigen Vergnügungs-Hotel auf den Bahamas schwimmen Rochen, Haie und Mantas herum – als Dekoration

Drei Zahnputzgläser stehen nebeneinander auf einem weißen Laborschrank. Darin je ein Fisch. Links ein blauer, in der Mitte ein grüner, rechts der rote. Sehen trostlos aus, die Tierchen. Man wünscht ihnen etwas Grünzeug oder ein bisschen mehr Platz. „Das sind sehr niedere Tiere“, meint die Meeresbiologin trocken. Da mag sie wohl Recht haben. Und warum auch sollte sie das Schicksal dieser drei „niederen“ Tiere irritieren, ist sie doch mitverantwortlich für rund 50000 Meerestiere in dem laut Management weltweit größten Aquarium. Dem Aquarium des Hotels „Atlantis“ auf den Bahamas.

„Ich zerhacke jeden Tag 400 Kilo Fisch“, sagt Rudolph, lacht und haut mit seinem Messer ein silbriges Exemplar klein. Rudolph bereitet das Futter für die Tiere in den Aquarien vor. In seiner Fischküche stehen säuberlich aufgereiht mehr als ein Dutzend Metalleimer, in denen die zerkleinerten Meerestiere glibbern. 80 Kilo Shrimps kommen täglich noch dazu. Auf einer Metalltafel an der Wand steht mit grünem Filzstift geschrieben, wie viel von welchem Fisch die Muränen, die Haie, die Hummer und die Piranhas bekommen. Was deutlich und blutig in Erinnerung gerufen wird: Fische fressen Fische. Tonnenweise.

Aquarien können, wie Zoos überhaupt, sensible Gemüter doch sehr deprimieren. Diese Anlage bildet keine Ausnahme, und das Gefühl wird noch stärker durch die Gewissheit, dass die Tiere hier nur der Dekoration dienen. Von Arterhaltung, wozu Zoos da sein mögen, kann in diesem Fall nicht die Rede sein. Gewiss, die Fische sind gut genährt und überaus hübsch anzuschauen. Und doch stellt sich immer wieder die Frage: Wozu das alles? Wer will hier eigentlich hin? Und warum bloß?

Es sind viele, die hierhin wollen, jede Nacht rund 5000 Menschen. Sie alle wollen ins Hotel „Atlantis“ auf „Paradise Island“. Sie alle möchten sich erholen und amüsieren. Und die Aquarien sind Teil des Amüsements, gehören zu der hollywoodreifen Inszenierung der ganzen Lokalität dazu.

„Atlantis“ heißt das vor zwei Jahren für 480 Millionen Dollar fertig gestellte Hotel auf den Bahamas nicht zufällig: Sein Motto ist das untergegangene Atlantis. Es ist ein Themenpark, der an die neuen Hotels in Las Vegas erinnert, die mit viel Styropor und bemalter Pappe Ägypten imitieren oder mittelalterliche Ritterwelten nachbauen. Eines ist diesen Häusern allen gleich: Entworfen wurden sie von Filmarchitekten, für die Eklektizismus – das beliebige Nebeneinander von Formen – kein Schimpfwort ist und die offensichtlich frei von ästhetischem Schamgefühl sind. Die Postmoderne hat selbst diese Art von Architektur ermöglicht.

Und so kleben nun Kunststoff-Delfine an den Fassaden, tragen bauchige, statisch maßlos überdimensionierte Stützen Balkone und Terrassen, fließt aus Plastikschnecken mit künstlicher Eisenpatina Wasser in einen Brunnen, wachsen Seepferdchen aus den Wänden, ist eine Kuppel vom Ausmaß einer mittleren Barockkirche überreich mit enormen Muscheln dekoriert. Wenn auch das Ornament heute in der Architektur kein Verbrechen mehr ist, so wird es hier wieder zu einem.

Rudolph kommt mit dem aufwändig inszenierten touristischen Atlantis kaum in Berührung. Was oben passiert, interessiert ihn nicht. Denn sein Leben spielt sich hier unten ab. Wie ein unterirdischer Highway zieht sich ein breiter Flur unter dem Hotelkomplex durch. Dies ist die Schlagader der ganzen Anlage. Von hier gehen die Küchen der 20 Restaurants, die Umkleideräume für die 5600 Angestellten, die Kantinen, die Büros, die Heiz- und Wasseranlagen, die Umwälzpumpen für die Aquarien, Rudolphs Schlacht-Raum und die Labors der Meeresbiologin ab.

Oben glaubt man sich in irgendeinem Vergnügungspark der Vereinigten Staaten, hier unten ist man auf den Bahamas. Ein Taucher plaudert mit einer Köchin, ein dicker Mann schiebt einen metallenen Wagen mit schmutziger Wäsche durch den Flur. Zimmermädchen kommen kichernd um die Ecke gebogen. Die Biologin steckt kurz den Kopf durch die Tür eines Raumes und wirft einen Kontrollblick auf die Schildkröte in einem beleuchteten Becken des Fischkrankenhauses. Alles in Ordnung.

Die Gästebetreuerin Kathy kommt aus dem Umkleideraum. Sie nestelt an ihrer bunten Bluse und setzt grinsend einen Strohhut auf. Dann nickt sie freundlich und verschwindet ins Treppenhaus. Oben tritt sie durch eine diskret angelegte Tür in die Eingangshalle, und jetzt hat sie einen ganz anderen Ausdruck im Gesicht. Denn oben gibt man sich distinguiert und vor allem distanziert. Bildschöne Frauen wie Kathy führen die Gäste ein in die Welt des imaginierten Atlantis.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Zora del Buono und Stefan Pielow

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Architektin und mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg.

In mare No. 20 berichteten die beiden vom Unterwassertheater für Seejungfrauen in Florida

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Architektin und mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg.

In mare No. 20 berichteten die beiden vom Unterwassertheater für Seejungfrauen in Florida
Person Von Zora del Buono und Stefan Pielow
Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist Architektin und mare-Kulturredakteurin. Sie lebt in Berlin.

Stefan Pielow, Jahrgang 1959, ist freier Fotograf in Hamburg.

In mare No. 20 berichteten die beiden vom Unterwassertheater für Seejungfrauen in Florida
Person Von Zora del Buono und Stefan Pielow