Angriff der Meeresmonster

Seit je übertrifft die Fantasie von Dichtern und Künstlern die der Seeleute, wenn es um Gruseltiere aus der Tiefsee geht

Der Kolosskalmar, der von dem Fischtrawler „San Aspiring“ im Februar 2007 vor Neuseeland aus dem Wasser gehievt wurde, war so groß wie ein Kleinwagen und wog fast eine halbe Tonne. Er war den Fischern ins Netz gegangen, als sie einen Zahnfisch hochzogen, den sie in 1800 Meter Tiefe gefangen hatten. Der Kalmar hatte den 30 Kilo schweren Zahnfisch verfolgt, umschlungen und schließlich einfach weggemampft.

Es war der größte Kalmar, der jemals gefangen wurde, und er erinnerte an den Kopffüßer, den Jules Verne 1870 in seinem Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“ detailliert beschrieben hatte. Sein gigantischer Kalmar, der sich mit enormer Geschwindigkeit fortbewegte, war „gut und gerne acht Meter lang“ und hatte riesige, meergrüne Augen. „Seine acht Füße, die mit dem Kopf verwachsen waren und diesen Tieren die Bezeichnung Kopffüßer eingetragen haben, waren doppelt so lang wie der Leib und krümmten sich wie die Haare der Furien.“ An der Innenseite der Tentakel waren 250 halbkugelförmige Saugnäpfe angebracht, und „das Maul des Monstrums, ein Hornschnabel wie bei einem Papageien, öffnete und schloss sich vertikal“. Die aus einer hornartigen Substanz bestehende Zunge war mit mehreren Reihen spitzer Zähne besetzt und trat „schwirrend“ aus der scherenartigen Mundöffnung. Und der „spindelförmige, in der Mitte aufgequollene Leib“ bildete eine fleischige Masse von bis zu 25 000 Kilogramm Gewicht.

Die fulminante Beschreibung des Riesenkalmars hatte Verne offensichtlich einem Bericht des Kapitäns der „Alecton“ für die französische Akademie der Wissenschaften entnommen. Die Korvette war am 30. Januar 1861 etwa 120 Meilen nordöstlich von Teneriffa einem zwölf Meter großen Exemplar begegnet, das tot im Atlantik trieb.

Heute wissen wir, dass der im Nordpazifik lebende Architheutis japonica und der in den Meeren der südlichen Hemisphäre beheimatete Architheutis sanctipauli bis zu 22 Meter lang werden und sich um ihre Mundöffnung herum zehn Arme gruppieren, von denen zwei Tentakel sind, meterlange Fangarme, die ihre Beute ertasten und mithilfe von Hakenkrallen greifen können.

Der widerliche Geruch, den die Riesenkalmare in ihrem Muskelgewebe produzieren und der viele Fressfeinde (nicht zuletzt den Menschen) auf Distanz hält, und ihre überragenden Schwimmfähigkeiten machen sie zu effizienten, aggressiven Jägern, die täglich mehrere Zentner Beutetiere vertilgen. Selbst die wesentlich kleineren, dunkelrosa gefärbten Humboldtkalmare, die im Südpazifik vorkommen und von den Chilenen „rote Teufel“ genannt werden, sind wegen ihrer blitzartigen Überraschungsangriffe gefürchtet.

Wahrscheinlich werden Kalmare deshalb auch heute noch allzu oft mit Kraken verwechselt, die im antiken Griechenland oder in Japan als Symbole der Liebe galten und vom Vater der Manga-Comics, dem Farbholzschneider Katsushika Hokusai, auf einer berühmten Druckgrafik verewigt wurden, die einen gierig am Geschlecht einer Fischersfrau saugenden Kraken zeigt. Erst im Christentum, so der Meeresbiologe Onno Gross, verkörperten sie den Teufel oder eine Sünderin und standen stellvertretend für Verräter, Lügner und Geizhälse, die ihre Beute durch Tarnung täuschen, bevor sie sie erlegen.

Immer wieder wurden Angriffe von Kraken kolportiert. Plinius der Ältere berichtete kurz nach Christi Geburt von einem Polypen, der zehn Meter lange Arme besaß und die an der Küste von Carteia in Spanien gelegenen Fischteiche plünderte. Der Bischof Olaus Magnus aus dem schwedischen Uppsala will 1555 ein 16 Meter langes schwimmendes Ungeheuer mit einem viereckigen Kopf und Hörnern beobachtet haben. Und sein Kollege Erik Pontipiddan soll zu Beginn des 18. Jahrhunderts einen „trügerischen Kraken“ gesichtet haben, dessen Rücken angeblich „anderthalb englische Seemeilen lang“ war und der in der Lage gewesen sei, mit seinen Fangarmen selbst größte Schiffe in die Tiefe zu ziehen.

Ganz ungefährlich sind die Kraken allerdings nicht. Der Enteroctopus dofleini, so die wissenschaftliche Bezeichnung der Pazifischen Riesenkrake, ist zum Beispiel ein nachtaktiver Beutegreifer und frisst vor allem Weichtiere (Schnecken und Muscheln) und Krustentiere (Krabben und Langusten), schreckt aber auch vor kleinen Haien und Seevögeln nicht zurück und beißt auch schon mal Taucher. Mit dem Schnabel knackt er die Panzer seiner Beute auf, und mit seiner Raspelzunge, der Radula, bohrt er sie an.

Dass sie überhaupt jemals gesichtet wurden und nicht bloßes Seemannsgarn sind, grenzt allerdings an ein Wunder. Denn die scheuen Tiere leben zumeist in tiefem Wasser bis 1500 Meter und kommen nur im Pazifik und im Südatlantik vor. Sosehr sich manch einer vor den Riesenkraken fürchtete, weil ihre Tentakel den Betrachter an „ein unentwirrbares Knäuel lebender Schlangen“ erinnern, wie Jules Verne schrieb, so sehr wurden Kraken aber auch immer wieder zu einem Objekt neugierigen Schauders.

Als Victor Hugo 1866 in dem Roman „Die Arbeiter des Meeres“ den Helden Gilliat mit einem Kraken kämpfen ließ, ekelten sich die Leser vor „dem Wabbeligen, das einen Willen hat“, und dem „von Hass durchdrungenen Schleim“. Bereits im ersten Jahr musste das Buch aber 14 Mal nachgedruckt werden, und es sorgte dafür, dass Hüte im Krakenlook in Frankreich plötzlich der letzte Schrei waren.

Und der überdimensionale Krake, der in der Hollywood-Trilogie „Fluch der Karibik“ das Schiff des Piratenkapitäns Jack Sparrow, die „Black Pearl“, angreift, brachte den Kids zwar das Gruseln bei, faszinierte sie aber zugleich mit seiner monströsen Urgewalt, die an Kinoschrecken wie King Kong oder Godzilla gemahnte.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Hollow Skai

a href="https://www.mare.de/hollow-skai-urheber-1369">Hollow Skai studierte Germanistik und Politik und ist freier Journalist, Buchautor und Musikproduzent. Er lebt und arbeitet in Hamburg.

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