An vielen Ufern

Auf den Wassern Istanbuls, wo sich die Wege von Pendler und Fernverkehr kreuzen, muss Sisyphos ein Lotse sein

Nachts, wenn die Möwen in grossen Kreisen um die hell erleuchteten Minarette der Sultanahmet-Moschee schweben, mit strahlend weißen, ausgebreiteten Flügeln, lautlos, im Jagdfieber und hungrig auf Fledermäuse; nachts, wenn die letzte Fähre Richtung Asien ins Dunkle sticht und alle, die nach Mitternacht die Seite des Bosporus wechseln wollen, sich ins Auto setzen und über eine der beiden Brücken fahren müssen; nachts, wenn draußen Dutzende Schiffe auf Reede liegen und auf den Morgen oder eine Fracht warten, wenn die verfallene römische Stadtmauer, die sich an der Wasserlinie entlangzieht, noch abweisender aussieht als bei Tag und alles dahinter und nichts davor zu geschehen scheint; nachts, wenn die Luft warm ist und flüsternde Paare auf Bänken sitzen, umschmeichelt von Katzen, die sich auf die Suche nach Essbarem begeben, wenn die Passagierschiffe hintereinander am Eingang des Goldenen Horns vertäut liegen, ihre erleuchteten Speisesäle und Lichterketten vor den Häuserzeilen glitzern und nur vereinzelt ein Containerschiff in den Bosporus einbiegt und träge in der Bläue verschwindet: dann scheint alles gelassen, friedlich, geordnet und ruhig zu sein in Istanbul, der Stadt auf den sieben Hügeln, umarmt, umspült und durchzogen von Gewässern, die ihr Bild prägten und ihr die Bedeutung gaben, die sie heute noch hat.

Frühmorgens um fünf ist die Stadt noch nicht aufgewühlt von dem, was ihr während des Tages widerfahren wird, und sie muss sich nicht mehr erholen von dem, was sie erlebt hat, es ist Zwischenzeit, Atempause, Istanbul liegt da im gelben Licht der Straßenbeleuchtung, belebt einzig von Taxen und ersten Frühaufstehern, solchen wie Mehmet, dem Fischverkäufer, der neben der Galatabrücke auf den Fang wartet, den Yilmaz, der Fischer, ihm bringen wird, jeden Morgen zwischen sechs und halb sieben, in seinem winzigen Boot, immer am Rand der Legalität arbeitend, weil nämlich die Fischschwärme sich nicht an Demarkationslinien halten, an Uferzonen und Sperrgebiete. Und an die sich deshalb auch Yilmaz nur ungern hält und er sich in die Fahrgebiete der großen Frachter begibt, da aber nicht alleine liegt, was zu gefährlich wäre, sondern in der sicheren Gruppe von zwei Dutzend Fischerbooten, die wie ein Schwarm soeben zart auf der Wasseroberfläche gelandeter Libellen tanzen und schaukeln auf den Wellen des Marmarameers direkt an der Mündung des Bosporus. Es ist schwieriger geworden, seit Dezember 2003, als das Kontrollsystem in der Region eingeführt wurde, mit Video- und Satellitenüberwachung, und jetzt plötzlich Boote der Küstenwache angeschnellt kommen, die Yilmaz und die anderen Fischer vertreiben, raus aus der Fahrrinne, Richtung Ufer, wo sie auch hinfahren, bis die Polizei verschwunden ist. Dann tuckern sie zurück, dorthin, wo die Fische sind, in die Illegalität, aber was bedeutet schon Illegalität in einer Stadt, in der ganze Viertel für die Neuankömmlinge ohne Baugenehmigung erstellt werden und die dann kurz vor den Wahlen legalisiert werden, denn auch Zuwandererstimmen sind Stimmen.

Den ganzen Tag über wird Mehmet am Fährhafen Eminönü ans Geländer gelehnt stehen, rauchen und die fünf Sorten Fische verkaufen, die er in bunte Plastikschüsseln verteilt hat, eine Million Lira die großen, drei Millionen Lira für das Kilo der kleinen will er haben. Wenn ein Käufer sich entschieden hat, setzt Mehmet sich auf ein Holzbrett, die Zigarette im Mundwinkel, schlitzt den Bauch des Fisches auf, greift in den Körper hinein und wirft die Innereien hinter sich in das ölige Wasser.

Eminönü morgens um sieben ist eine Männerwelt, wie überhaupt das öffentliche Leben Istanbuls vorwiegend ein männliches ist. Zu Hunderten quellen Männer aus den Fähren, die von der asiatischen Seite kommen, von Haydarpasa und Üzküdar, sie schieben sich von Bord, drängen durch die Schranken, immer mehr steigen die Treppen herunter von den oberen Decks, es scheint kein Ende zu nehmen. Alle kommen sie, um Geschäfte zu machen, große Geschäfte oder ganz kleine, traurige, dem blanken Überleben dienliche. Neben Mehmet installiert sich ein Kugelschreiberverkäufer, ein anderer hat sich auf Feuerzeuge spezialisiert, einer bietet Brezeln an, und der alte Mann, der eine Personenwaage aus einer Tüte auspackt und sie vor sich hinstellt, schaut so erwartungsvoll in die vorbeiziehenden Gesichter, dass manch einer dem muslimischen Gebot, Almosen zu geben, nachkommt und sich auf das alte Messgerät stellt.

Die Menschen eilen zu Fuß über die Galatabrücke, hetzen in die Altstadt, zum Bahnhof, springen in Taxen, hasten weiter. Die Fähre legt ab, eine nächste wartet schon auf den frei werdenden Anleger, der Verkehr auf dem Wasser verdichtet sich zusehends.


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mare No. 46

No. 46Oktober / November 2004

Von Zora del Buono und Alex Webb

Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist stellvertretende Chefredakteurin von mare. Sie erreichte Istanbul auf dem spektakulärsten Weg: zu Schiff im Abendlicht. Besonders die Brücken bewegten sie: Im Mietwagen auf der schwankenden Bosporusbrücke stecken zu bleiben war genauso beeindruckend wie ein nächtlicher einsamer Spaziergang über die Atatürkbrücke zu einer Zeit, als ganz Istanbul vor dem Fernseher das Fußballspiel zwischen rivalisierenden lokalen Clubs schaute und kein einziges Taxi die Straßen befuhr.

Alex Webb, Jahrgang 1952, ist Vizepräsident der Agentur magnum. Istanbul ist für den New Yorker Fotografen seit langem ein Faszinosum. Er arbeitet an einem Bildband über die Stadt.

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Vita Zora del Buono, Jahrgang 1962, ist stellvertretende Chefredakteurin von mare. Sie erreichte Istanbul auf dem spektakulärsten Weg: zu Schiff im Abendlicht. Besonders die Brücken bewegten sie: Im Mietwagen auf der schwankenden Bosporusbrücke stecken zu bleiben war genauso beeindruckend wie ein nächtlicher einsamer Spaziergang über die Atatürkbrücke zu einer Zeit, als ganz Istanbul vor dem Fernseher das Fußballspiel zwischen rivalisierenden lokalen Clubs schaute und kein einziges Taxi die Straßen befuhr.

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