An Samlands Strand

Mondänes Künstlerquartier, militärischer Kurbetrieb, jetzt Badeort für jedermann: Willkommen in Swetlogorsk!

Das Hotel heisst „Staroj Doktor“ und ist ein weiß getünchter Neubau mit roten Backsteinverzierungen. Dazu steht auf einem rustikalen Holzschild neben der Tür in Frak- turlettern noch der deutsche Name der Unterkunft: „Alter Doktor Hotel“.

Willkommen in Swetlogorsk II, vormals Rauschen-Düne, mondänes Ostseebad unweit von Königsberg. Aber Königsberg heißt inzwischen Kaliningrad, und alles hat sich verändert, hat sich der gewaltsamen Metamorphose vom Deutschen ins Sowjetische ins Russische unterziehen müssen. Alles außer den Birken vor dem Hotelzimmer.

Überhaupt, überall im Ort stehen Bäume – hinter den verfallenen Holzhäuschen aus deutscher Zeit, in Parkanlagen, die plötzlich ihre domestizierte Form wie ein überflüssiges Kleidungsstück abwerfen, und natürlich vorn an der Steilküste, wo sich vor den Horizont und das im Himmel verschwimmende Meer vertikale Streifen legen: schlanke Stämme von Birken und Kiefern und Föhren und Erlen. Auf jeden der 8000 Einwohner von Swetlogorsk entfallen theoretisch 140 Quadratmeter Grünfläche. Sagt die Statistik, mit der es sich freilich ebenso verhält wie mit dem so genannten Volkseigentum aus sowjetischer Zeit – wem nun was genau gehört, lässt sich nur schwer ausmachen.

Aber „die frühere Zeit“, wie Nadja, die Deutsch sprechende Managerin des „Alten Doktors“, stets ein wenig schamhaft sagt, ist doch vergangen und vorbei, oder? Das nette kleine Hotel befindet sich eindeutig in privater Hand. Wem aber gehört der wuchtige Bronzekopf im schattigen Park hinter dem Hotel, dort, wo die Gagarinstraße einen kleinen Knick macht? Sie gehört, so informiert ein Metallschildchen, das auf dem steinernen Fundament angebracht ist, dem berühmten Wissenschaftler Pawlow. Noch heute kommen Schulklassen mit Blumen in den Händen hierher, um des großen russischen Reflexforschers zu gedenken.

Bei genauer Nachforschung werden hier jedoch ganz andere Reflexe sichtbar. Konstantin Pawlow hat zeit seines Lebens keinen Fuß nach Swetlogorsk gesetzt, auch zu Zeiten des deutschen Ostseebades Rauschen wurde er hier nie gesehen.

In Wirklichkeit erinnert der Bronzekopf an einen deutschen Arzt und sollte deshalb 1945 nach dem Einmarsch der Roten Armee gesprengt werden. Da aber gerade nicht ausreichend Dynamit vorhanden war oder irgendein Befehl missverstanden wurde, blieb das Denkmal stehen. Und weil das ursprüngliche Schildchen mit dem Namen des Doktors in den Wirren des Krieges abhanden gekommen war und jene, die sich vielleicht hätten erinnern können, längst vertrieben waren, kam an der nunmehr russischen Ostseeküste Konstantin Pawlow zu Ehren.

Der namenlose deutsche Arzt – und hier wird aus der Realität politisch motivierter Legenden ein neuer Ursprungsmythos – lebt nun seit bereits zwei Jahren fort im Namen der schönsten Touristenherberge des Ortes: „Alter Doktor Hotel“.

„Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut“, ein in altmodischer Schrift auf blaues Holz gepinselter Sinnspruch an Giebelwänden, in deren Nischen schon die Vögel des Waldes ihr Nest bauen – gottverlassen scheinen die Häuschen in den Seitenstraßen, die paradoxe Namen wie Uliza Dynamo tragen. Meterhoch steht das Gras in den Vorgärten, die rostige Gartentür gibt ein melancholisches Quietschen von sich, während hinter blinden Scheiben langsam Gardinen zur Seite geschoben werden und mal ein misstrauisches, mal ein verschrecktes russisches Großmütterchengesicht auftaucht.

Merkwürdige Häuschen sind das, seltsam ihre Proportion: hoch und schmal und unschlüssig, ob sie nun Kate oder verfallenes Herrenhaus sein wollen. Zurzeit sind sie keines von beidem. Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut. Nur, in Swetlogorsk wird mit Ausnahme protziger Waldvillen für die so genannten Neuen Russen nichts Nennenswertes gebaut; der Ort lebt von den zusammengestoppelten Resten all jener Epochen, die über ihn hinweggegangen sind. Und so muss der deutsche Reisende lernen, dass er hier auch mit Gott nicht weiterkommt. Mit anklagender Geschichtsaufrechnerei freilich noch weniger, denn die heutige Oktjaberskaja hieß ab 1933 Hermann-Göring-Straße, und das war bestimmt nicht weniger scheußlich.

Vier Jahre zuvor begründete Thomas Mann in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“ vom 16. Juni 1929 seine Reise nach Rauschen. „Unter abendlicher geborenen Deutschen ist die Kenntnis Ihrer Provinz aus eigener Anschauung recht selten, wie mir scheint. Mit der Unbereistheit Ostpreußens hat es seine besondere Bewandtnis. Es bestehen Vorurteile. Es besteht eine Neigung zu seelischer Fahrlässigkeit, zum Sichabwenden, zum kulturellen Fallenlassen. Seelisch, gefühlsmäßig liegt etwas in der Luft wie Unglaube, Gleichgültigkeit, Verzicht. Etwas von Demonstration, ich will das offen aussprechen, ist meinen sommerlichen Reiseplänen einschlägig.“


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mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Marko Martin und Gueorgui Pinkhassov

Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman Der Prinz von Berlin im Ullstein Verlag. Wegen seiner neugierigen Fragen während der Recherche in Swetlogorsk hielt seine Pensionswirtin ihn für einen Spion; es gelang ihm bis zum Schluss nicht, sie von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen.

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, ehe er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig.

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Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman Der Prinz von Berlin im Ullstein Verlag. Wegen seiner neugierigen Fragen während der Recherche in Swetlogorsk hielt seine Pensionswirtin ihn für einen Spion; es gelang ihm bis zum Schluss nicht, sie von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen.

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, ehe er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig.
Person Von Marko Martin und Gueorgui Pinkhassov
Vita Marko Martin, Jahrgang 1970, lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman Der Prinz von Berlin im Ullstein Verlag. Wegen seiner neugierigen Fragen während der Recherche in Swetlogorsk hielt seine Pensionswirtin ihn für einen Spion; es gelang ihm bis zum Schluss nicht, sie von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen.

Gueorgui Pinkhassov, geboren 1952, arbeitete in Moskau als Kameramann und Filmfotograf, ehe er 1985 nach Paris übersiedelte. Dort ist er seit 1988 für die Fotoagentur Magnum tätig.
Person Von Marko Martin und Gueorgui Pinkhassov