Am seidenen Faden

Simone Frömming und Wolf Malten haben ein neues Genre des Puppenspiels erfunden: das Unterwassermarionettentheater. In ihren Aufführungen erschaffen sie eine Wunderwelt, die nicht nur Kinder bannt

Ein goldener Fisch weist den Weg. Wer ihm folgt, gelangt in den Börsensaal des Lübecker Rathauses, umgebaut zu einem Vorführraum. Er ist kaum groß genug für 30 Besucher. Die Wände sind schwarz verhüllt, das Licht gedimmt, nur der rote Vorhang an der Bühne verrät, dass dies hier wirklich ein Theater sein könnte. Ein Unterwassermarionettentheater. Noch ehe Zeit bleibt zu überlegen, wie das wohl funktionieren könnte mit den Figuren unter Wasser, wird das Sälchen in Dunkelheit getaucht, und es huscht der erste Fisch über die Bühne. Taucht ab, tollt umher, während das Meer, in dem er schwimmt, von Sonne durchflutet strahlt.

Eine perfekte Illusion, ein Tagtraum, fast kann man die Salzluft riechen. Das Publikum wird in 30 Minuten auf eine Reise bis zum Meeresgrund und zurück mitgerissen. Wie in einem Sturzflug in Kapitän Nemos „Nautilus“ öffnet sich den Kindern und Erwachsenen mitten in der Lübecker Altstadt ein Guckloch hinein in den weiten Ozean.

„Visite dans la mer – der Besuch im Meer“. Nicht umsonst wählten Simone Frömming und Wolf Malten diesen Namen für ihr Kurzprogramm. Nur von Musik begleitet, erzählen sie darin die Geschichte einer Badehose, die ihrem Besitzer abhanden kommt und herrenlos durch die See treibt. Vorbei an Quallen, Tiefseetauchern, tanzenden Krabben, Einsiedlerkrebsen und selbstverständlich jeder Menge Fischen. Keine große Geschichte, eigentlich. Doch bezaubert sie jeden Zuschauer mit dem Spiel der Figuren, sie lässt gerade durch das Fehlen von Dialogen jedem die Freiheit der Interpretation.

Wie in allen Puppentheatern ist es vor allem die Gestik der Charaktere, die spielbestimmend ist. Und wer denkt, eine Qualle oder Krabbe beherrsche nicht viele Gesten, der wird beim Besuch in diesem besonderen Meer schnell eines Besseren belehrt. Nur eines ist wichtig, egal ob Zuschauer vor oder Künstler hinter der Bühne: Fantasie.

Fantasie ist eine Eigenschaft, die Frömming und Malten in überbordendem Maß zu besitzen scheinen. Seit 19 Jahren bereits macht das Duo Wassertheater, es ist damit Gründer und Kern dieses Genres zugleich. Im Gegensatz etwa zum vietnamesischen Wassertheater, einem traditionsreichen und effektvollen Puppenspiel der Landbevölkerung, das auf der Wasseroberfläche stattfindet, ist es bei den Lübeckern vor allem das ruhige Spiel unter dem Wasserspiegel, das den Reiz ausmacht und damit einzigartig ist auf der Welt.

„Als wir uns kennenlernten, war völlig klar, dass wir etwas Großartiges machen werden“, erinnert sich Wolf Malten an die Zeit seines Zivildiensts in einer Lübecker Klinik, auf deren Fluren er Simone Frömming zum ersten Mal traf. Seitdem inszenierten sie neben Jules Vernes Klassiker „20 000 Meilen unter dem Meer“ rund ein Dutzend selbst erdachte Geschichten. Da wird „Der kleine Hai“ im Unterwasserzirkus besucht, geht es mit dem Detektiv „Aquacat“ auf Spurensuche oder begibt man sich zusammen mit dem Publikum auf die Suche nach dem „Seehasen“, eine Produktion, die in Zusammenarbeit mit dem Ostsee-Infocenter Eckernförde und der Ostseestation Priwall entstand, eine Theatervorführung mit pädagogischem Hintergrund, aufgeführt im Theateraquarium zwischen den von lebendigen Meeresbewohnern bevölkerten Glasbecken des Infocenters. Der kleine Börsensaal des Lübecker Rathauses dient nur für ein paar Wochen im Sommer und Winter als Spielstätte; viele Monate des Jahres verbringt das Paar auf Tournee. Dabei führt die Reise durchaus auch einmal mit dem Aquarium im Fluggepäck nach Finnland.

„Wir bekamen eine Festivaleinladung, konnten aber natürlich nicht unser großes 3000-Liter-Becken mit in den Flieger nehmen“, erzählt Malten. Da haben sie sich kurzerhand ein passendes Stück erdacht. Eine Inszenierung, für die ein kleines Becken mit 60 Litern ausreichte, das sich vom „Besuch im Meer“ stark unterscheidet. So füllt es sich beispielsweise erst während der Aufführung langsam mit Wasser und tummeln sich statt Fischen oder Krebsen plötzlich Schafe darin.

Theater für Kinder, für Erwachsene und beide zusammen: Frömming und Malten stellen sich immer neuen Aufgaben, mit ständig neuen Ideen und Ansätzen. „Wenn ich auf der Bühne die Chance habe, zu sprechen oder zu singen oder ein Instrument zu spielen, dann möchte ich die Gelegenheit auch nutzen und sie in die Geschichte einbinden“, erklärt Malten die zum Teil ungewöhnlichen Kombinationen aus Puppen- und echtem Theater. Seine Partnerin, Sozialpädagogin, ruhig und nachdenklich, schreibt die Geschichten. Sie entwickelt die Charaktere und widmet sich der Theaterpädagogik. Er hingegen mimt mit voller Energie und Extrovertiertheit den Showmaster, baut Puppen, komponiert Musik, führt Gäste hinter die Bühne, erzählt begeistert Geschichten. Und davon ist das Wassertheater randvoll.

„Wer glaubt denn, dass wir geradeeben wirklich unter Wasser gespielt haben?“, ist Maltens liebste Frage bei der obligatorischen Führung hinter die Kulissen. Deutlich zeigt sie die Verunsicherung der Zuschauer, fast immer heben einige Besucher zaghaft die Hand. Kann es denn überhaupt sein, dass man mit Marionetten unter Wasser spielen kann? Fällt einem nicht schon im Schwimmbad das Gehen schwer? Erst als der 49-jährige Malten hinter sich ins Becken greift und eine Schale voll Wasser herausholt, verfliegen die Zweifel. Die Bewunderung für das gelungene Schauspiel wächst beim Publikum, je mehr es über die Arbeit hinter der Bühne erfährt. Dabei hüten die Erfinder des Unterwassertheaters manches Geheimnis, vermeiden es, über Dinge zu sprechen, die das Erlebnis auf der Bühne schmälern könnten. Ob man den Schwimmer sehen könne, fragt ein Mädchen. Nein, der sei leider schon zum Mittagessen aufgebrochen, erklärt Malten. Aber vielleicht, mit ein wenig Glück, würde sie ja auf dem Marktplatz jemanden im Bademantel entdecken.

Auch darüber, wie zwei Puppenspieler zeitgleich fünf Figuren zu spielen vermögen, können die Besucher nur spekulieren. Aber sie erfahren: Die grüne Badehose, dieses kleine Stück Stoff, war nicht nur am schwersten zu bauen, sondern verlangt auch nach der meisten Aufmerksamkeit beim Spielen – Aufgabe der 45-jährigen Simone Frömming und tatsächlich eine Kunst. Geführt nur von zwei Nylonfäden, gleitet sie durchs Wasser, gesteuert von Handbewegungen, die fast meditativ wirken. Währenddessen turnt und tänzelt ihr Partner um sie herum und spielt die anderen Figuren. All das geschieht, für die Besucher unsichtbar, hinter dem Bühnenvorhang im Dunklen, angestrahlt nur vom pointiert ins Licht getauchten Aquarium. Eine perfekte, harmonische Choreografie, die anzuschauen genauso fasziniert, wie das eigentliche Stück auf der Bühne zu erleben. Nicht ohne Grund erfreuen sich daher auch die Inszenierungen, in denen die beiden Puppenspieler mit ins Bühnenbild integriert sind, einer ebenso großen Beliebtheit. Mit dem Nachteil, dass man nie genau weiß, worauf man gerade achten soll, welche Kunst gerade mehr beeindruckt.

Eine Reizüberflutung längst verkümmerter Synapsen – wer das Wassertheater als Erwachsener besucht, ist meist sprachlos. Die Erinnerungen an Puppentheater liegen Jahrzehnte zurück, dazu kommt die akzentuierte Beleuchtung der Bühne, perfekt eingesetzte Musik und die realistischen Bewegungen der Figuren, die das Gesehene seltsam real erscheinen lassen, obwohl es in einem einfachen Wasserbecken stattfindet. Es ist das Wasser, was irritiert. Die Trägheit des Elements sorgt dafür, dass die Puppen sich bewegen, als seien sie lebendig. Spätestens wenn auf der Bühne eine Qualle auftaucht, mit ihrem Schirm und den vielen Tentakeln durchs Wasser gleitet und sich in Sekundenbruchteilen erst in einem friedlichen Violett und dann in einem aggressiven Rot zeigt, können auch Erwachsene nur noch wie Kinder staunen – und allenfalls ahnen, wie viel Arbeit eine solche Inszenierung bereitet.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 85. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Martin Sebastian Kreplin

Martin-Sebastian Kreplin, Jahrgang 1981, lebt als freier Autor und Fotograf in Strukdorf bei Lübeck. Er ist gelernter Segelmacher und war Redakteur bei der Zeitschrift Yacht, ein Mann des Wassers also.

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Vita Martin-Sebastian Kreplin, Jahrgang 1981, lebt als freier Autor und Fotograf in Strukdorf bei Lübeck. Er ist gelernter Segelmacher und war Redakteur bei der Zeitschrift Yacht, ein Mann des Wassers also.
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