Am goldenen Fluss von Surabaya

mare-Serie „Legendäre Hafenstädte“: Wer auf Java die Spuren Joseph Conrads sucht, pendelt zwischen Beginn und Ende dieses Jahrhunderts

Das Leben erobert den Platz der Toten, Zug um Zug, von außen nach innen. Verfallende Opulenz von Kreuzen und Krypten, Statuetten und Stelen, Gotik und Gottesfürchtigem, Baldachinen oder anderen Bauelementen. Über allem gedeiht Alang-Alang, das messerscharfe Gras Indonesiens. Aus dem Friedhof Peneleh in Surabaya ist über die Jahre eine beeindruckende Ruinenlandschaft erwachsen. Ein Todesacker aber ist er nicht.

„Hier ruht Cornelius Adreanus Keulemanns“, steht auf einer marmornen Grabplatte eingemeißelt. Tatsächlich schläft hier ein junger Mann. Der löchrige Schatten des vom Rost zerfressenen Eisendaches und die Kühle des Marmors mildern die Tropenhitze. Die beziehungsreiche Inschrift in der fremden Sprache stört ihn nicht. Viele schlafen hier, ausgiebig wie stets die halbe Stadt, wenn die Sonne am höchsten steht.

In den Jahren vor 1914, als die umliegenden Viertel zu vornehmen europäischen Wohnquartieren avancierten und Joseph Conrad mit seinem Roman „Sieg“ die Stadt in der Weltliteratur verankerte, hatten die Totengräber hier einmal viele Hektar für die holländischen Herrschaften gebraucht. Konnte doch kaum einer von ihnen damals, auf dem Höhepunkt der Kolonialära, dem Malaria-Tod entkommen, wenn er nur lange genug in der Hafenstadt der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) blieb. Nach dem zweiten Weltkrieg dann waren die Grabstätten allesamt zu pompös, als daß es sich für die Indonesier gelohnt hätte, sie aufzulassen. Sie waren ihnen einfach egal.

So ruhen heute viele auf dem Peneleh-Friedhof, drunter und drüber. Viel Geschrei, von Ziegen und Zank, von Kindern und Kampfhähnen samt ihrem Publikum. Ein belebter Kampung – ein Wohnquartier – ist in das Feld hereingewachsen und wächst immer weiter. Familiengräber werden zu Familienbehausungen, Grabplatten zu Tischplatten, tempelartige Mausoleen zu Stätten des Zigaretten- und Kaugummihandels.

Viele Gräber sind geöffnet, manche erst seit kurzem. Die quadratmetergroß klaffenen Löcher kümmern niemand, kein Hinterbliebener läßt sich hier blicken. Das unbekümmerte Leben siegt über jede Pietät. Ungestört wuchert der Wohnbezirk Genteng über den Friedhof, wie dies einst in Troja irgendeine Schicht über irgendeine vorherige tat.

Genteng, einer der zentralen Kampungs Surabayas. Wo die Seele der alten Hafenstadt lebt, weitab vom Hafen selbst, weil die Seele einer Stadt nach javanischer Überlieferung nicht in der Nähe ihres Herzens liegen darf. Die Seele – in ihr stehen die meisten Moscheen, die Basare, das Araberviertel. Mohammedanische Herrscher verlagerten ihre Machtzentrum einst vom Süden Javas hierher an die Nordküste, als der Transport eines ganz besonderen Handelsgutes über die Meere ins ferne Europa immer lukrativer wurde: Gewürze. Surabaya entwickelte sich zur Handelsmetropole. Die Stadt liegt dort, wo bereits lange vor der Ankunft der Europäer die begehrten Spezereien auf ihre lange Reise ins Abendland geschickt wurden: Nelken, Muskat und andere Kostbarkeiten, deren Herkunft schon das antike Europa kannte, aber nur vom Hörensagen, und dies über viele tausend Seemeilen, vom anderen Ende der Welt.

Das Land aufzuspüren, wo die Gewürze herkommen, machten sich dann, vor 500 Jahren, die Supermächte Spanien und Portugal auf den Weg. Kolumbus suchte ihn im Westen, die Nachfolger des Indienfahrers Vasco da Gama fanden ihn schließlich im Osten. Niederländer kontrollierten schon wenig später die Routen und hielten sie bis in unsere Zeit.

„Am Anfang war das Gewürz“, beginnt Stefan Zweig sein Buch über die erste Weltumsegelung Magellans. Hier, in Surabaya, landeten die Schätze von den winzigen Gewürzinseln im Osten des Archipels an, von hier aus machten sie sich, in den Bäuchen der Dschunken, auf die lange Reise über die „Gewürzstraße“: über den Indischen Ozean, durch die Wüsten der Levante und das Mittelmeer, schließlich nach Genua und Venedig, über die Alpen nach Augsburg oder Nürnberg.

Vor langer Zeit kämpften vor der Küste Javas ein Sura und ein Buaya – ein Krokodil und ein Haifisch – miteinander. Ein Denkmal vor dem Surabaya-Zoo erinnert an die Fabel, doch niemand weiß heute genau, wann das gewesen sein soll, geschweige denn, wer gewonnen hätte, das Krokodil oder der Hai. Auch ist nicht bekannt, wer an dieser Walstatt dann die Stadt gründete und nach den beiden Kombattanten nannte. Überliefert aber ist, daß große Herrscherdynastien, hinduistische, buddhistische und islamische, von dort, wo die Inseln Java und Madura einander am nächsten liegen, regen Seehandel betreiben ließen. Und daß zu Zeiten des mächtigen Reiches Majapahit, im 14. Jahrhundert, hier bereits der große internationale Hafen Ujung Galuh etabliert war.

Als die ersten Europäer Anfang des 16. Jahrhunderts ankamen, hatte Majapahit schon längst seine große Zeit hinter sich, die heute als die „Goldene“ des vorkolonialen Indonesien gilt — mit dem bedeutenden Handelsknoten im Mittelpunkt. Die islamischen Sultane Matarams starteten an derselben Stelle noch einmal den Versuch, einen einheimischen Machtapparat gegen die Niederländer zu errichten, scheiterten aber endgültig im Jahre 1625.

Gresik ist ein Vorort Surabayas. Im Hafenschlick versinken hölzerne Schiffsleiber, kleine Fischerboote und große Pinisis, wie die Indonesier ihre Segelfrachter heute noch nennen, Zweimaster, die nach den europäischen Segelschiffen des 17. Jahrhunderts, den Pinassen, heißen. Auch hier, auf dem Schiffsfriedhof, nimmt sich das Leben vom Reich der Toten, was es gebrauchen kann. Die großen Rümpfe der Pinisis werden aufgebockt und ausgeschlachtet. Solche, denen man keine Zukunft mehr zutraut, erhalten hier eine: neue Spanten, neue Aufbauten, neues Segelrigg, so wie es schon immer ging.

Surabaya 1999: Es herrscht die große Zeitlosigkeit, eine Verweigerung, zur Jahrtausendwende alles anders zu machen als die letzten fünfhundert Jahre. Der Eigner eines Schiffsneubaus, ein schmächtiger Chinese Ende 50, weiß weder um die Vergangenheit von Mataram, Majapahit oder die Gewürzstraße noch um die Zukunft, um die Globalisierung, die ihn bedrohen könnte. 450 Millionen Rupiahs, umgerechnet 75000 Mark, hat er gerade in seinen 300-Tonnen-Segelfrachter investiert. Doch von dem neuen, großen Containerterminal, der in Tanjung Perak, dem modernen Hafen seiner Heimatstadt Surabaya, seit Jahren gebaut wird und gerade vor der Vollendung steht, hat er noch nie gehört. Warum auch? Segelschiffe haben schon immer den Frachtverkehr des größten Inselstaates der Welt bestritten, und so wird es auch bleiben. Indonesien dürfte das Land mit dem weltgrößten Anteil an Windenergie im Cargoverkehr sein, auch wenn in vielen der Pinisis heute ein Motor für die großen Flauten eingebaut ist. Und so werden noch viele Frachter, vom Wind getrieben, aus fernen Gegenden des Archipels nach Surabaya einfahren.

Genauer gesagt: in die Mündung des Kali Mas, des „Goldenen Flusses“. Hier befindet sich das Herz der großen Hafenstadt, in gebührendem Abstand zu ihrer Seele. Rund 1000 Meter Hafenkai, über den sich so hoch und stolz die Bugspriete der Pinisis schieben, daß alle Ängste vor der modernen Konkurrenz, sollten sie je irgendwo aufkommen, nichtig werden.

Dicht an dicht liegen die Lastensegler, nicht längsseits, sondern mit dem Bug zum Kai: dickbauchige, 35 Meter lange und acht Meter breite Bugi-Schoner, benannt nach den verwegensten aller Seefahrer des Archipels: den Bugis. Aus Sulawesi, dem aus Kolonialzeiten bekannten Celebes, stammen sie und stellen bis heute den Großteil der Mannschaften. Von Sulawesi aus ist Surabaya der nächste große Hafen auf Java, der Hauptinsel Indonesiens. Auch deshalb liegen in Kali Mas so viele Bugi-Schoner vertäut.

Der Fluß ist nicht mehr golden, und schon der Gedanke, man könnte in die Brühe fallen, erzeugt Übelkeit. Sonst aber hat sich am Kali Mas wenig verändert seit der Zeit, als menschliches Strandgut wie der berüchtigte Bully Hayes hier vor 100 Jahren von Bord gingen, um seinen dunklen Geschäften in Surabaya nachzugehen.


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mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

Von Ulli Kulke und Rolf Nobel

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist stellvertretender Chefredakteur von mare. Für seine letzte Reportage durchwanderte er den Westcoast-Trail in Kanada (in No. 9).

Rolf Nobel, Jahrgang 1950, ist Fotograf der Hamburger Agentur Visum. In mare No. 3 erschien seine Reportage über die Abwracker von Alang in Nordindien

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Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist stellvertretender Chefredakteur von mare. Für seine letzte Reportage durchwanderte er den Westcoast-Trail in Kanada (in No. 9).

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Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist stellvertretender Chefredakteur von mare. Für seine letzte Reportage durchwanderte er den Westcoast-Trail in Kanada (in No. 9).

Rolf Nobel, Jahrgang 1950, ist Fotograf der Hamburger Agentur Visum. In mare No. 3 erschien seine Reportage über die Abwracker von Alang in Nordindien
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