Als Sankt Pauli sein Lächeln verlor

Auch Hamburg hatte sein Chinatown. In Chopsuey-Lokalen und Opiumhöhlen stillten die Deutschen ihren Hunger nach Exotik – bis die Nazis Jagd auf die Fremden machten

Nachts lockte das Licht. Tausende, Zehntausende Glühlampen in allen Farben – sie formten Leuchtschriften: „Trichter“, „Honolulu“, „Zum Leuchtturm“. Varieté, Tanz, Revue. Und Mädchen, Mädchen, Mädchen.

„Er schaut sich um, blickt auf die hoch aufgerichteten, in billige Seide gekleideten Körper, sieht das verführerische Tanzen der kleinen Brüste unter den dünnen Kleidern, die schlanken Beine in den glänzenden Seidenstrümpfen, die hinaufgerutschten Kleider, die die Knie freigeben.“

Diese Mädchen, die der Chronist Philipp Paneth in seinem Buch „Nacht über St. Pauli“ beschrieb, saßen auf Pferden und ritten jeden Abend durch die sandige Arena des „Hippodroms“. Das „Hippodrom“ war eine der größten Attraktionen von Hamburgs Hafenviertel Sankt Pauli. Es waren Männer, Freier, die jeden Ritt bezahlten. Traben kostete 30 Pfennig, Galopp eine Mark. Je nach Tempo hüpften die Brüste der Mädels besonders heftig. Eine Blaskapelle spielte dazu auf, die Matrosen, die untreuen Ehemänner, die Junggesellen saßen auf Emporen, tranken Grog und feuerten die Mädchen an. Manchmal versuchte ein betrunkener Matrose auf den Pferderücken zu springen, krallte sich in der Mähne des Gauls fest. Und wenn am Ende des Abends das Geld reichte, bezahlten die Männer eine der Frauen und gingen mit ihr aufs Zimmer. „Gewerbsmäßige Unzucht“ hieß das im Polizeideutsch.

Aber bei wem reichte schon das Geld? Es waren die angeblich Goldenen Zwanziger, der Erste Weltkrieg lag wenige Jahre zurück. Deutschland war arm, die Inflation stieg. „Ja, det sind belämmerte Zeiten. Keen Jeld, keen Jeschäft – keen Aas hat wat.“ So sprach die Prostituierte im Maulwurfspelz, an den langen Beinen hohe Russenstiefel. Eine hübsche Person soll sie gewesen sein, abgehauen aus Berlin, in Sankt Pauli gestrandet. „Sankt Liederlich“, wie man damals sagte, nahm sie alle auf.

Wer hier seinen Platz finden wollte, der hatte eine Chance. In Sankt Pauli spielte die Herkunft keine große Rolle. Der Hamburger Hafen war tatsächlich ein Tor zur Welt. „Weiße und Farbige drängen sich in den engen Straßen, aber besonders sind es Chinesen, die manchem Lokal durch ihre lächelnde Schweigsamkeit einen Stich ins Unheimliche geben.“ Das schrieb Hans Harbeck in seinem – heute würde man sagen: alternativen – Reiseführer „Hamburg. Was nicht im Baedeker steht“ aus der Weimarer Zeit.

Die Chinesen von Sankt Pauli, sie wurden zunehmend eine eigene Attraktion, neben „Hippodrom“, bayerischen Bierpalästen und Wachsfigurenkabinett. Im Chinesenviertel wurde man als Gast ausnehmend höflich behandelt, hier herrschte keine Rumm-ta-ta-Atmosphäre, im Gegenteil, es war ein leiser Ort, ganz anders als das sonst raue Sankt Pauli. Ein Ort, der die Fantasie anregte. Man war in Hamburg und wähnte sich doch in der Fremde.

„Haus bei Haus in der Schmuckstraße ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat über oder neben dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen. Die Fenster sind dicht verhängt, über schmale Lichtritzen huschen Schatten, kein Laut dringt nach draußen. Alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses“, notierte der Hamburger Schriftsteller Ludwig Jürgens in seinem dokumentarischen Buch „St. Pauli“. Noch sind die Deutschen längst nicht Weltmeister im touristischen Fernreisen, noch ist die Welt da draußen – Asien, Afrika, Amerika – für fast alle fremd und durchaus nicht geheuer. Aber die Deutschen hatten trotzdem schon Appetit auf Urlaub und Exotik. Sankt Pauli konnte alles bieten.

So lief der Sankt-Pauli-Besucher aus der deutschen Provinz angenehm verstört durch die Schmuckstraße und träumte sich nach China. Die Mutigen trauten sich sogar, irgendwo einzukehren und eine Tasse chinesischen Tee zu trinken. Der eine genoss den Schauder, der andere die Weltläufigkeit des Ortes. „Die Schmuckstraße ist als Chinaviertel von St. Pauli geheimnisvoll und rätselhaft wie das große Mutterland im Fernen Osten“, fasste Jürgens zusammen.

Die Schmuckstraße – viel größer war das Chinesenviertel nicht. Eine kurze, damals eher düstere Straße, die von der Großen Freiheit abgeht. In den oberen Etagen der Häuser wohnten Hamburger Arbeiterfamilien, Witwen und Prostituierte. Die Souterrains waren dagegen fast ausschließlich an Chinesen vermietet. Es ist nicht klar, wie viele Chinesen während der Weimarer Republik in Sankt Pauli wohnten. Der Historiker Lars Amenda geht aufgrund von Zeitungsberichten von mehreren hundert aus, zwischenzeitlich können es aber auch über 1000 gewesen sein. Offiziell gemeldet war kaum einer. In der Hamburger Polizeibehörde war man von der Einwanderung nicht begeistert, 1924 hieß es in einem Bericht, die Chinesen, die „in Kellerlokalen hausen“, seien „zu einer Plage“ geworden. Doch eine Ausweisung war wegen eines deutsch-chinesischen Wirtschaftsvertrags schwierig.


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mare No. 66

No. 66Februar / März 2008

Von Susanne Leinemann

Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als Autorin in Berlin. In ihrem ersten Roman kam zwar kein Chinese vor, aber immerhin ein Inder.

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Vita Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als Autorin in Berlin. In ihrem ersten Roman kam zwar kein Chinese vor, aber immerhin ein Inder.
Person Von Susanne Leinemann
Vita Susanne Leinemann, Jahrgang 1968, lebt als Autorin in Berlin. In ihrem ersten Roman kam zwar kein Chinese vor, aber immerhin ein Inder.
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