Als Moby Dick noch Mocha Dick hiess

Der weiße Wal aus Herman Melvilles Roman hatte ein real existierendes Vorbild

Der Harpunier des schwedischen Walfangschiffes, dessen Name heute längst vergessen ist, konnte sich nicht so richtig als Held fühlen. Zwar hatte er im Jahr 1859 einem riesigen Wal den Todesstoß versetzt, einem Tier, das unter Walfängern zur eigentlich unbesiegbaren Legende geworden war. Doch es war mittlerweile auf einem Auge blind und so altersschwach, dass es sich kaum noch wehrte, als die Harpune ihm in die Lunge drang. Die Haut des Wals war mit Narben übersät, und im Speck darunter entdeckte die Mannschaft bei der Verarbeitung 19 Harpunenspitzen – Andenken an über hundert Kämpfe mit Walfängern, bei denen seine Jäger das Nachsehen hatten und mehr als 30 von ihnen ihr Leben ließen.

1810 hatte das Tier nahe der Mocha-Insel vor der chilenischen Küste ein erstes Walfangboot attackiert. Die Walfänger hatten mehr Glück als so manche nach ihnen und kamen mit dem Leben davon. Sie berichteten, der Angreifer sei ein riesiger männlicher Pottwal gewesen, und sie könnten ihn an seiner großen weißen Narbe quer über die Stirn jederzeit wieder erkennen. Eine Legende war geboren und erhielt gleich einen Namen – Mocha Dick.

Der markante Wal schien tatsächlich sehr intelligent zu sein. Er tauchte unter Fangboote und hob sie in die Luft, sodass alle Insassen herausgeschleudert wurden. Er näherte sich Schiffen und floh vor ihnen immer gegen den Wind, als wüsste er, dass die Segler ihm so nicht folgen konnten. Er rammte Boote, schlug sie mit seinem Schwanz in Stücke und scheute sich nicht, auch große Schiffe zu attackieren und mit einem Stoß seines riesigen Schädels leckzuschlagen. Mittlerweile hatten sich die meisten Begegnungen von der chilenischen Küste in japanische Gewässer verlagert. Die bunt zusammengewürfelten Mannschaften der Walfangschiffe fügten den Erzählungen über Mocha Dick jedesmal, wenn sie sie ein Schiff weiter trugen, neue Details hinzu. So sorgte die Legende dafür, dass nicht nur die Narbe weiß war, sondern bald auch der ganze Wal, angeblich so weiß wie Wolle.

Im November 1819 rammte Mocha Dick mit seinem dicken Schädel das Walfang-Vollschiff „Essex“ und versenkte es. 20 Männer retteten sich in die Boote, aber nur wenige von ihnen überlebten, unter ihnen der Erste Offizier Owen Chase. Er schrieb später ein Buch, in dem er die Begegnung mit dem Ungetüm bis ins Detail schilderte, sich aber zugleich bei seinen Lesern für den traurigen Ausgang der Geschichte entschuldigte. Doch er hoffe, durch das Buch einen bescheidenen Schadenersatz für die bei dem Unglück verlorene Habe zu erhalten. Chases Buch wurde kein Bestseller, erst 1839 kam Mocha Dick außerhalb von Walfängerkreisen zu erstem Ruhm. Jeremiah N. Reynolds schrieb im „Knickerbocker Magazine“ einen Aufsatz über das Tier.

Auf dem Walfangschiff „Acushnet“ hörte ein junger Matrose die Erzählungen seiner Mannschaftskameraden über Mocha Dick. Er war Sohn einer angesehenen, aber in der Wirtschaftskrise von 1837 verarmten New Yorker Familie. Sein Name: Herman Melville. Im Laufe der Reise erfuhr Melville, sein Zweiter Offizier John Hale habe zwei Reisen zusammen mit dem Buchschreiber Owen Chase unternommen. Die Neugier des Matrosen war geweckt. Als die „Acushnet“ dann auch noch auf hoher See einem anderen Schiff begegnete, auf dem der Sohn von Owen Chase fuhr, gelang es Melville, von ihm das Buch seines Vaters zu entleihen. Melville hatte eine schlechte Schulbildung und versuchte, sich im Selbststudium so viel Wissen wie möglich anzueignen. Wie viele Menschen seiner Art war er von Büchern fasziniert.

Das Leben der Walfänger war abenteuerlich und zog Melville in seinen Bann. Doch wie mancher andere Walfänger erlag auch er der Versuchung, auf einer der traumhaften Südseeinseln, Nuku Hiva auf den Marquesas, zu desertieren. Dort lockten schöne Frauen, die so ganz andere und erfreulich freiere Moralvorstellungen als die Christen hatten. Eineinhalb Monate lang hielt er es auf der Insel aus und war gehätschelter Liebling der Insulaner. Dann ankerte der nächste Walfänger, die „Lucy Ann“, vor der Insel, und Melville heuerte wieder als Matrose an.

Im Vergleich zur „Acushnet“ war die „Lucy Ann“ ein Seelenverkäufer. Ratten liefen über das Vordeck, und die Offiziere übten eine Willkürherrschaft aus. Beinahe kam es an Bord zur Meuterei, und Herman Melville war mittendrin. Als das Schiff in Tahiti anlegte, wurde er zusammen mit einigen Kameraden im örtlichen Gefängnis in hölzerne Blöcke gelegt. Doch kaum war die „Lucy Ann“ hinter dem Horizont verschwunden, da ließen die Wärter ihre Gefangenen schon wieder frei. Langsam zog es Melville in zivilisiertere Gegenden zurück. Im November 1842 schiffte er sich erneut auf einem Walfänger ein, der ihn nach Honolulu brachte. Von dort aus kam Melville mit der amerikanischen Fregatte „United States“ wieder zurück in die Staaten.


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mare No. 15

No. 15August / September 1999

Von Eigel Wiese

Eigel Wiese, Jahrgang 1947, lebt in Hamburg und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Autor für maritime Themen. Er schrieb mehr als zehn Bücher zur Geschichte und Kultur der Seefahrt

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Vita Eigel Wiese, Jahrgang 1947, lebt in Hamburg und arbeitet als freiberuflicher Journalist und Autor für maritime Themen. Er schrieb mehr als zehn Bücher zur Geschichte und Kultur der Seefahrt
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