Als die Zukunft unter Wasser lag

Den bewegungsfreudigen Pferden wurde es auf den kleinen Südsee-Inseln zu eng. Da gingen sie ins Wasser

Der Mythos vom Riesenseepferd der Südsee ist wohl so alt wie die Legende vom Südkontinent, die noch im Barock vorherrschte. Zur Zeit der symmetrischen Gartenanlagen und der kontrapunktischen Musik meinten die Leute, dass es einfach einen Erdteil auf der anderen Seite des Äquators geben müsste – allein schon aus Gründen der Ausgewogenheit, weil sonst der Erde die nötige Balance fehle. So mag sich auch der Mensch von heute nicht recht von der lieb gewonnenen Vorstellung trennen, dass es in Ergänzung zum kleinen Seepferdchen der Nordsee auch ein Riesenseepferd der Südsee – Hippocampus magnus – geben muss.

Riesenseepferde der Südsee sind nach dem heutigen Stand der Spekulationen – ähnlich wie Delfine, bei denen sich Reste von zurückgebildeten Beinchen nachweisen lassen – schon in einer sehr frühen Entwicklungsstufe ins Wasser gegangen. Dass die Pferde in der Südsee den Delfinen folgten, ist allzu verständlich. Denn auf den Inseln des Pazifiks ist nicht genug Platz für ein Tier, das viel Auslauf benötigt. Die Osterinseln beispielsweise, so berühmt sie auch sein mögen, sind nicht größer als die Insel Fehmarn. Kein Wunder also, dass sich die bewegungsfreudigen, ja geradezu bewegungshungrigen Pferde ihren Auslauf anderswo verschaffen mussten, nämlich unter Wasser.

Zuvor noch hatten sie sich das angewöhnt, was man einen „aufrechten Gang“ nennen könnte. Die Riesenpferde konnten dadurch ihren Bewegungsdrang nicht nur in der Horizontalen, sondern auch in der Vertikalen ausleben. Die Hinterbeine mutierten zu einer schlagkräftigen Spirale, die der Entwicklung der Tiere, als sie ins Wasser gingen, im wahrsten Sinne des Wortes noch mal einen kräftigen Auftrieb gab. Die Vorderbeine konnten sich getrost zurück- bilden. So wuchsen die Riesenseepferde zu prächtigen Tieren heran, die im Wasser ihre neue Heimat gefunden hatten und an Land, wo es für sie viel zu eng war, bald ausgestorben waren. Und während andere Großtiere des Meeres bei Seefahrern Ängste und Schrecken auslösten, galten die Riesenseepferde stets als „freundliche Giganten“ und Glücksbringer.

Auf der nördlichen Halbkugel verlief die Evolution anders. Zwar lebte auch in der griechischen Mythologie die Vorstellung, dass der Wagen Poseidons von großen Seepferden gezogen werde. Doch im Allgemeinen gilt in unseren Breiten: Pferde gehören aufs Land. Dort blieben sie auch. Der Preis dafür war die Anpassung an die Bedingungen der Menschen. Die wenigen Pferde, die vor dieser Entwicklung flüchten wollten und ins Wasser gingen, fanden in der Nordsee ungleich schlechtere Bedingungen vor – schon wegen der Temperaturen. Kein Wunder also, dass sich hier die Seepferdchen zurückbildeten und heute ein klägliches Bild abgeben, ein trauriger Rest, der kaum noch die Majestät ihrer Verwandten im Süden erahnen lässt.

Die sind in großer Tiefe gesehen worden, als Rappen und als Schimmel. Einige sollen sogar immer noch eine Art Mähne aufweisen. Die Größenangaben schwanken zwischen vier und acht Metern bei zusammengerolltem Schwanz. Allerdings muss man die Beobachtungen mit Vorsicht genießen, weil es unter Wasser zunehmende optische Verzerrungen gibt, sodass Gegenstände oft größer scheinen, als sie sind. Und man darf auch gerne die allgemeine Taucherweisheit „Trau keinem über dreißig“ anwenden, nach der man Berichten von Tauchern aus einer Tiefe von über dreißig Metern sowieso keinen Glauben schenken darf.

In Kapstadt habe ich meine Suche nach Spuren des Riesenseepferdes begonnen. Hier haben sich die Aquariumsleute auf Tiefseefische spezialisiert – umso größer meine Enttäuschung. Sie zeigen die Fische nur im Modell, der Raum ist verdunkelt, dazu werden Geräusche eines U-Boots simuliert. Das hat zwar die Nebenwirkung, dass sich bei den Besuchern Anzeichen von Tiefseerausch zeigen und viele kichernd raustorkeln – aber vom Riesenseepferd keine Spur.

Im „Haus des Meeres“ in Wien würde ich mehr Glück haben, dachte ich. Die Vorliebe der Alpenrepublik für alles Nautische ist ja legendär; selbst die Stadtbusse nennen sich da „Busflotte“. Doch im Aquarium war nichts los: gähnende Langeweile auf beiden Seiten der Scheiben. Das einzige Seepferdchen, das es in einem Extrabecken zu sehen gab, war ein wirklich mickriger Nordsee-Bewohner. Der Anblick musste jeden, der nicht gerade ein Herz aus Stein hat, melancholisch stimmen – in einer Stadt wie Wien kein Problem.

Im „Sea World“ in Auckland dagegen sind sie stolz darauf, dass ihre Anlage zur „most attractive“ Sehenswürdigkeit ganz Neuseelands gewählt wurde. Nach der Besichtigung der Seepferdchen wird ein „instant counselling“ angeboten, eine Art psychologische Beratung. Denn die viel zu kleinen Tierchen, die in ihrer Attraktivität noch weit hinter einem Bildschirmschoner zurückbleiben, machen doch nur deutlich, dass wir eigentlich etwas anderes wollen: die Riesenseepferde.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Bernhard Lassahn

Bernhard Lassahn, Jahrgang 1951, ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Neben satirischen Texten, Erzählungen und Hörspielen schrieb er u. a. sieben Bände über Käpt’n Blaubär, den er in mare No. 3 porträtierte. Im August erscheint sein Roman Auf dem schwarzen Schiff, Goldmann Verlag München, 541 Seiten, 46,90 Mark

Conny Bangert, Jahrgang 1958, hat in Bielefeld Illustration studiert und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Sie arbeitet seit dem ersten Heft für mare

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Vita Bernhard Lassahn, Jahrgang 1951, ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Neben satirischen Texten, Erzählungen und Hörspielen schrieb er u. a. sieben Bände über Käpt’n Blaubär, den er in mare No. 3 porträtierte. Im August erscheint sein Roman Auf dem schwarzen Schiff, Goldmann Verlag München, 541 Seiten, 46,90 Mark

Conny Bangert, Jahrgang 1958, hat in Bielefeld Illustration studiert und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Sie arbeitet seit dem ersten Heft für mare
Person Von Bernhard Lassahn
Vita Bernhard Lassahn, Jahrgang 1951, ist Schriftsteller und lebt in Hamburg. Neben satirischen Texten, Erzählungen und Hörspielen schrieb er u. a. sieben Bände über Käpt’n Blaubär, den er in mare No. 3 porträtierte. Im August erscheint sein Roman Auf dem schwarzen Schiff, Goldmann Verlag München, 541 Seiten, 46,90 Mark

Conny Bangert, Jahrgang 1958, hat in Bielefeld Illustration studiert und lebt als freie Illustratorin in Berlin. Sie arbeitet seit dem ersten Heft für mare
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