Als die Pest nach Marseille segelte

Ein tragisches Versagen: Wie 1720 die letzte Pest Europas ausbrach

Die Katastrophe begann mit einer Lüge im Namen des Herrn. Kapitän Jean-Baptiste Chataud hatte in der Bucht von Marseille die Anker seines Dreimasters werfen lassen, nun ließ er sich hinüberrudern zum Eingang des Hafens. Auf dem Kai unterhalb der Festung Saint-Jean wartete bereits ein Beamter der Gesundheitsbehörde, in der Hand einen mehrere Meter langen Stock. An dessen Ende war ein Brett befestigt mit einem Blatt aus dem Johannesevangelium, geschützt unter Glas. Der Kapitän legte seine rechte Hand darauf. Er kannte die Prozedur. Er wusste auch, dass man das Glas nachher reinigen würde, um das ­Einschleppen von Krankheiten zu ver­hindern. „Vous jurez, que vous allez dire ­la verité“, rief der Sanitätsbeamte aus sicherer Entfernung. „Schwören Sie, dass Sie die Wahrheit sagen!“  

Was Kapitän Jean-Baptiste Chataud an diesem 25. Mai 1720 zu seinem mörderischen Meineid trieb, ist nicht gesichert. Sicher ist, dass er mehr als 100 000 Menschen das Leben kostete und für zwei Jahre Angst, Schrecken und Leid über die Region brachte. Die Katastrophe von Marseille gilt als der letzte große Ausbruch der Pest in Europa. Sie gilt auch als Lehrstück dafür, wie ein oft erprobtes Frühwarn- und Abwehrsystem ausge­hebelt wird, wenn Skrupellosigkeit, Profitgier, Unwissen und Nachlässigkeit zusammenwirken. 

Kapitän Chataud war dabei nicht der einzige Verantwortliche, aber wohl der ruchloseste. Zehn Monate lang ist er mit der „Grand Saint-Antoine“ kreuz und quer durch die Ägäis und das östliche Mittelmeer gefahren, hat in verschiedenen Häfen Waren geladen, neben Pottasche für die Seifenherstellung vor allem Baumwollballen, indisches Tuch und orientalische Stoffe. Im syrischen Tripoli, der letzten Station vor der Heimreise, nimmt er 15 Passagiere an Bord. Auf dem Weg nach Zypern passiert Beunruhigendes.

Einer der Passagiere erkrankt und stirbt. Chataud befiehlt, ihn dem Meer zu übergeben. Bald erkranken die beiden Matrosen, die den Mann ins Meer warfen. Zwei weiteren geschieht dasselbe, dann dem Schiffsarzt, der sie untersucht hat. Alle fünf landen im Meer. Chataud ahnt Böses, verschanzt sich im Heck, aus sicherer Distanz ruft er seine Kommandos. Als nahe Korsika drei weitere Matrosen von heftigem Fieber geschüttelt werden, läuft er Livorno an. Italienische Ärzte bescheinigen den Sterbenden ein „bösartiges, pestilenzialisches Fieber“.

Vielleicht haben die Ärzte nur von Weitem durchs Fernglas geschaut, mutmaßt ein zeitgenössischer Chronist. Wie sonst ließe sich das Fehlurteil erklären? Die Symptome, rote bis violette Beulen am Hals, unter den Armen und an den Leis­ten, dürften eindeutig gewesen sein. 

Doch Chataud darf nach Marseille weitersegeln mit einem Attest, das den Tod dreier Besatzungsmitglieder vage auf ein pestartiges Fieber zurückführt statt auf die Pest selbst. Die „Grand Saint-Antoine“ läuft, wie alle Handelsschiffe, die aus der Levante kommen, die Insel Pomègues vor der Einfahrt zum Hafen an – statt 15 Kilometer entfernt die Insel Jarre, die vorgesehen ist für Schiffe mit Pest an Bord. Kapitän Chataud übergibt dem Gesundheitsbeamten das Attest aus Livorno, schwört bei Gott, die Ursache des Fiebers sei „schlechtes Essen“ gewesen, verschweigt die sechs Toten und die Symptome an deren Körpern, die ihn bewogen, sich im Heck zu verschanzen.

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mare No. 158

mare No. 158Juni / Juli 2023

Von Carsten Jasner

Für die Recherche las sich Carsten Jasner, durch 300 Jahre alte Chroniken und fühlte sich permanent an die Gegenwart erinnert. Es galten Corona-Quarantäneregeln und Maskenpflicht.

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Person Von Carsten Jasner
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