Als die Fotos lügen lernten

Ein Krieg ohne zwingende Voraussetzungen, aber mit weitreichenden Folgen: Der Krimkrieg war der erste moderne Stellungskrieg, er markiert den Anfang vom Ende des zaristischen Russlands, den Beginn des Lazarettwesens und der Kriegsberichterstattung

In einem Krieg, der sich im entscheidenden Moment um die Belagerung eines Seehafens – Sewastopol – drehte, war es nur konsequent, wenn die Berichterstatter mit dem Schiff anreisten. 1854 bestieg William Howard Russell ein Schiff in Southampton, das die englischen Horse Guards nach Malta bringen sollte – vorerst als Mahnung, England könne sich an dem beginnenden Krimkrieg beteiligen. Als dies geschah, fuhr die Flotte samt Russell über Gallipoli nach Warna am Schwarzen Meer, das heute zu Bulgarien gehört. Er war 34 Jahre alt, Gesandter der „Times“ und einziger Journalist bei den Truppen.

Als die Flotte am 17. September 1854 nördlich von Sewastopol landete, kündete er den Lesern von ungeahnten Wassermassen, allerdings nicht im Meer. Es fing an zu regnen. Es goss. Russell schrieb: „Selten oder nie sahen sich 27 000 Engländer in einer erbärmlicheren Lage.“ Man hatte nämlich keine Zelte für die Truppen an Land gebracht, Decken und Mäntel der Soldaten weichten durch, die meisten Männer schliefen in Pfützen oder in Bächen. Die französischen Truppen waren dagegen gut gerüstet. Russell bemerkte Lazarette, Brot- und Keksbäckereien, Planwagenzüge für die Beförderung von Vorräten und Gepäck. „Unser großer Marinestaat wurde durch einen einzigen Dampfer repräsentiert, der einem Privatunternehmen gehörte.“ Diese anklagende Tonlage sollte in den folgenden Monaten noch oft in der „Times“ zu lesen sein, mit weitaus schlimmeren Schilderungen.

Es war der Auftakt einer Berichterstattung, die die Öffentlichkeit des ruhmreichen britischen Weltreichs aufbrachte und die Bewertung des Krimkriegs und seiner katastrophalen Umstände entscheidend prägte. Russell gilt seitdem als der erste moderne Kriegsberichterstatter, ein Wort, das er selbst hasste. Aber der Mann notierte eben genau und aus eigener Anschauung, wie es den Soldaten erging, wie die Schlachten geschlagen wurden, wie wenig Glorie zuweilen im Kampf ist. Die Realität des Krieges, ungefiltert erzählt. Seine Depeschen waren in England eine Sensation. Sie sind auch heute noch fesselnd zu lesen.

Als die Engländer ihre Schiffe verließen, hatte jeder laut Russell eine Provianttasche mit Pökelfleisch und Zwieback dabei. Außerdem eine Feldflasche für Wasser, eine Ration Brandy, ein Gewahr samt Bajonett, 50 Schuss Munition für die Minié-Gewehre, 60 Patronen für Gewehre mit geradem Lauf. Besonders die neuen Minié-Gewehre richteten im Krimkrieg verheerende Verletzungen an. Sie schlugen durch die Körper und hinterließen schreckliche Wunden.

Russell geriet schon bald in die Schlachten. Am Warna-Fluss dokumentierte er das Sterben, beschrieb, wie Tausende Leichen auf dem Feld lagen, Verwundete, die elendig Durst litten und schrien. Die verletzten Engländer mussten fünf Kilometer auf Tragen zur Küste geschafft werden, die Franzosen hatten Sanitätsfuhrwerke dabei. Die Militärs waren an gewaltige Verluste gewohnt, sie nahmen eine hohe Sterblichkeit unter Verwundeten hin. Russell schrieb: „Die einfachsten Hilfen in einem Krankenhaus fehlen. Und so weit ich sehen kann, sterben diese Männer, ohne dass die geringste Anstrengung unternommen wird, sie zu retten.“ Die britischen Leser waren bald erschüttert und empört.

Die Militärs verachteten und fürchteten Russell zugleich. Sie verweigerten zunächst jede Unterstützung, Russell bekam kein Pferd, kein Zelt, keine Nahrung, er musste sich alles organisieren. Kein Offizier sollte mit ihm sprechen, und doch schaffte der Reporter es immer wieder, sich mit Soldaten anzufreunden und auch mit höheren Rängen zu sprechen. „Ein vulgärer, einfacher Ire, der gerne singt, jedermanns Brandy und Wasser trinkt und ständig Zigarren raucht“, schrieb einer. „Er ist genau der Mann, der sich Informationen verschaffen kann, besonders bei jungen Soldaten.“ Sein Humor und sein forsches Auftreten halfen ihm. Russell trug eine seltsame Mütze, Infanterierock, Reithose und Metzgerstiefel. Von General Pennefather ist verbürgt, wie er bei seinem Anblick „Zum Teufel, Sir, wie sehen Sie denn aus?“ rief. Russell könne doch wohl nichts vom Schlachthandwerk verstehen. Russell erwiderte, das sei so, aber es gäbe hier etliche Männer, die nichts davon verstünden. Da lachte der General.


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mare No. 110

No. 110Juni / Juli 2015

Von Holger Kreitling, Andreas Wenderoth und Roger Fenton

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, Redakteur der Welt in Berlin, ist besonders dankbar für Florence Nightingales Wirken. Er ist seit bald 30 Jahren mit einer überzeugten Krankenschwester liiert.

Roger Fenton(1819–1869) setzte nach dem Krimkrieg seine fotografische Karriere für ein paar Jahre fort, widmete sich Architektur und Landschaften, dem Cricketspiel, königlichen Schießveranstaltungen und dem Sardinischen Krieg von 1859.

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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, Redakteur der Welt in Berlin, ist besonders dankbar für Florence Nightingales Wirken. Er ist seit bald 30 Jahren mit einer überzeugten Krankenschwester liiert.

Roger Fenton(1819–1869) setzte nach dem Krimkrieg seine fotografische Karriere für ein paar Jahre fort, widmete sich Architektur und Landschaften, dem Cricketspiel, königlichen Schießveranstaltungen und dem Sardinischen Krieg von 1859.
Person Von Holger Kreitling, Andreas Wenderoth und Roger Fenton
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, Redakteur der Welt in Berlin, ist besonders dankbar für Florence Nightingales Wirken. Er ist seit bald 30 Jahren mit einer überzeugten Krankenschwester liiert.

Roger Fenton(1819–1869) setzte nach dem Krimkrieg seine fotografische Karriere für ein paar Jahre fort, widmete sich Architektur und Landschaften, dem Cricketspiel, königlichen Schießveranstaltungen und dem Sardinischen Krieg von 1859.
Person Von Holger Kreitling, Andreas Wenderoth und Roger Fenton