Aloha Heja He – Die Lieder der Seeleute

Die lange und wechselvolle Geschichte eines beliebten Musikgenres

Vor drei Jahren wäre ein deutscher Geschäftsmann in China wegen eines Shantys beinahe von der Fahrbahn abgekommen. Er hatte im Auto das Radio angemacht und konnte nicht fassen, was er hörte: „Aloha Heja He“, ein Shanty von Achim Reichel. Weil er ein Freund des Künstlers war, griff er zum Handy, filmte das Radio und kommentierte laut: „Achim Reichel! In China! Im Radio! Das glaubt mir doch kein Mensch“, und schickte diesen Clip an den Musiker in Hamburg. Der allerdings gab sich wenig beeindruckt, fand das zwar lustig, tat es aber als bizarren Zufall ab. „Ich war mir sicher, dass sich ein chinesischer DJ einen Scherz erlaubt hatte“, erinnert sich der 79-jährige Reichel. Aber es dauerte nicht lange, bis ihm dämmerte, dass dieser Autobahnclip nur die Spitze des Eisbergs war, denn sein 30 Jahre alter Gassenhauer „Aloha Heja He“, ein modernes Shanty, war in China tatsächlich zum Hit geworden. Und als immer mehr chinesische Plattenfirmen und Journalisten Kontakt zu ihm suchten, ging auch Reichel auf, dass die Sache viel mehr war als der seltsame Scherz eines chinesischen Radio-DJs. 

Wie es dazu kommen konnte, lässt sich rückblickend nur erahnen. Vermutlich geht die Geschichte auf einen reichweitenstarken Nutzer der chinesischen Videoplattform DouYin zurück, der, warum auch immer, Reichels Lied hochgeladen hatte und damit überraschend einen Nerv im Reich der Mitte traf. Jedenfalls landete „Aloha Heja He“ zu Beginn dieses Jahrtausends in China auf dem ersten Platz der Musikerkennungs-App Shazam, wurde dort multimillionenfach gestreamt und inspirierte Massen von Chinesen zu Amateurvideoclips, und das alles, ohne dass Achim Reichel es mitbekommen hätte. „Ich dachte, ich fall vom Stuhl. Das ist wie ein Geschenk des Himmels. Als wenn irgendein Gott denkt: So, dem Reichel wollen wir jetzt mal eine Freude machen!“ Sagt der Urheber.

Ähnlich gestaunt haben dürfte der Schotte Nathan Evans, ein studierter Webdesigner, der sich als Postbote durchschlug und nach Feierabend daheim gern allerlei Songs anstimmte, die er dann im Internet auf der Plattform TikTok hochlud, was bei einem überschaubaren Publikum von Freunden und Verwandten gut ankam. Aber als er eines schönen Feierabends im Dezember 2020 seine Version des betagten – verfasst um 1860 – Shantys „Wellerman“ ins weltweite Netz stellte, löste er einen Orkan an Begeisterung und virtuellem Applaus aus. In nur wenigen Wochen wurde sein Clip mehr als acht Millionen Mal geklickt, und Evans staunte über eineinhalb Millionen neue Follower aus der ganzen Welt. Obendrein posteten Prominente wie der Hitmusicalkomponist Andrew Lloyd Webber, die US-Talkshow­titanen Stephen Colbert und Jimmy Fallon und der Tesla-Tycoon Elon Musk ihre „Wellerman“-Interpretationen. Zur Krönung des Rummels reihte sich noch Queen-Gitarrist Brian May mit einem ­royalen „Wellerman“-Gitarrensolo ein, exklusiv auf TikTok. Kein Wunder, dass Evans bei der Post kün­dig­te, einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma unterzeichnete und weitere Shantys einsang. 

Zwei so wundersame wie über­raschende Shanty-Erfolgsgeschichten. Hätte irgendwer darauf gewettet, dass ein neues und ein altes Shanty weltweit die Charts aufmischen, hätte er vermutlich ein Vermögen eingestrichen. Allerdings ist der Wirbel um die Seefahrerlieder nicht aus dem Nichts gekommen. Denn auch in ­diesem vermeintlich modernen, durch­digitalisierten Jahrtausend ist die Sehnsucht nach dem Duft der großen, weiten Welt gegenwärtig geblieben. Ein unzerstörbarer Zauber des Analogen, passend zum Revival von Vinylplatten, Einweg­kameras und Brettspielen. Auch die Brise gepflegter Melancholie, die die oft rustikalen Shantys begleitet, ist zeitlos. 

Achim Reichel sagt: „‚Aloha Heja He‘ ist ein Song in der Tonart Moll, also durchaus etwas nachdenklicher und gemütvoller. Da schwingt eine Sehnsucht mit, die trotz der fremden Sprache auch Chinesen erreicht, die sich verstanden fühlen. Es geht in meinem Song weniger um den deutschen Text als um die Stimmung, die ja fast schamanisch ist. Aber dass ‚Aloha Heja He‘ als Partysong daherkommt, ist natürlich ein Widerspruch.“ 


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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Christoph Dallach und Sally Taylor

Christoph Dallach, 1964 in Hamburg geboren, kann mit Shantys nicht viel anfangen, hat aber in seiner Jugend in den besetzten Häusern der Hafenstraße viele aufregende Punk-Konzerte erlebt.

Die britische Künstlerin Sally Taylor, Jahrgang 1977, illustrierte 2021 „The Book of Sea Shanties“.

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Vita Christoph Dallach, 1964 in Hamburg geboren, kann mit Shantys nicht viel anfangen, hat aber in seiner Jugend in den besetzten Häusern der Hafenstraße viele aufregende Punk-Konzerte erlebt.

Die britische Künstlerin Sally Taylor, Jahrgang 1977, illustrierte 2021 „The Book of Sea Shanties“.
Person Von Christoph Dallach und Sally Taylor
Vita Christoph Dallach, 1964 in Hamburg geboren, kann mit Shantys nicht viel anfangen, hat aber in seiner Jugend in den besetzten Häusern der Hafenstraße viele aufregende Punk-Konzerte erlebt.

Die britische Künstlerin Sally Taylor, Jahrgang 1977, illustrierte 2021 „The Book of Sea Shanties“.
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