Alles auf null

Jahrhundertelang verhinderte der Stolz der Seefahrtsnationen die Festlegung der Grenze zwischen West und Ost auf dem Globus. Erst vor gut 130 Jahren einigten sie sich auf einen Nullmeridian

Der Mensch möchte Ordnung. Claudius Ptolemäus, ein Mann griechischer oder ägyptischer Herkunft, war ein Freund der Systematik. Er lebte im zweiten Jahrhundert in Alexandria, stieß in der weltberühmten Bibliothek seiner Stadt auf umfangreiche astronomische Beobachtungen und geografische Aufzeichnungen und suchte dafür ein Ordnungssystem.

Zunächst nahm er sich den Kosmos vor. In dessen Mitte verortete er die unbewegliche Erdkugel, um sie herum ließ er Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn in unterschiedlichen Abständen und regelmäßigen Bahnen kreisen; und damit sie nicht vom Himmel herunterfielen, befestigte er sie an durchsichtigen Kristallschalen, die die Erde nach seiner Vorstellung umgeben wie die Schalen einer Zwiebel.

Als nächstes brachte er Ordnung in die Lage der rund 8000 Orte, über die sich in der Bibliothek von Alexandria Angaben fanden. Ptolemäus ersann ein Projektionsverfahren, um die Wölbung der Erdkugel auf Papier wiedergeben zu können, und überzog sie mit einem Netz von senkrecht zueinander verlaufenden Linien. In diesem Gitternetz ließ sich jetzt jedem Ort in der bekannten Welt ein Platz zuweisen. Diese Ordnung des Ptolemäus herrschte fast 1000 Jahre lang. Sein Atlas mit den geografischen Längen und Breiten war das Maß der Dinge.

Als Bezugs- und Nulllinie für die Breiten hatte der antike Geograf den Äquator gewählt, dessen Umfang er zwar um 10 000 Kilometer unterschätzte, von dem er aber wusste, dass der Erdumfang dort am größten ist – also eine natürliche Linie, die den Globus in Nord und Süd teilt. Für die Längengrade oder Meridiane gab es eine solche natürliche Referenzlinie nicht. Die Bestimmung des Nullmeridians war ein Akt reiner Willkür.

Ptolemäus legte den Längengrad, der die Welt in Ost und West scheidet, deswegen genau an die Grenze der bekannten Welt, die am westlichsten Kap der westlichsten Kanarischen Insel El Ferro (heute El Hierro) endete. Das brachte dem Eiland später den Namen Isla del Meridiano ein. Nebenbei hatte diese Bestimmung des Nullmeridians für den Geografen den Vorteil, dass er die Länge für seinen eigenen Wohn- und Arbeitsort Alexandria auf handliche 60,5 Grad festlegen konnte, was allerdings – in Bezug auf die durch El Ferro laufende Referenzlinie – ebenfalls ein Irrtum war.

Der Ferro-Meridian blieb auch in Kraft, als man rund 1000 Jahre später die Azoren entdeckte und feststellte, dass sogar westlich von ihnen die Welt noch weiterging. 1634 wurde die Nulllinie von El Ferro auf einem Kongress seefahrender Nationen noch einmal ausdrücklich bestätigt.

Bis ins 19. Jahrhundert blieb ihre Geltung unangefochten – zumindest auf dem Papier. In der Realität aber verlor sie mit dem Bau des Pariser Observatoriums 1666 an Bedeutung: Der durch die Pariser Sternwarte verlaufende Meridian wurde auf genau 20 Grad festgelegt und etablierte sich damit als heimlicher neuer Nullmeridian.

Im Zug der geografischen Entdeckungen des 17. Jahrhunderts errichtete man in vielen Ländern neue Observatorien, die Welt wurde neu vermessen. Und an vielen Orten entstanden damit auch neue Nullmeridiane. Auf französischen Schiffen berechnete man die geografische Länge nach dem Pariser Meridian, die Portugiesen navigierten nach einem Nullmeridian, der Lissabon durchschnitt, brasilianische Schiffe orientierten sich an dem Nullmeridian, der durch Rio de Janeiro lief, unter Zar Peter dem Großen zogen russische Kartografen die Nulllinie durch Sankt Petersburg.

Weitere Nullmeridiane führten durch Kopenhagen, Amsterdam, Ulm, Pisa und Rom. Und natürlich besaßen die Briten ihren eigenen Nullmeridian, der nach Messungen mit dem damals besten Teleskop der Welt wenige Meter neben der Königlichen Sternwarte von Greenwich verlief.

Es herrschte also Null-Grad-Chaos. Jeder bestimmte seinen Standort nach einer anderen Referenzlinie, der gegenseitige Austausch von Positionsangaben oder nautischen Tabellen war meist sinnlos.


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mare No. 109

No. 109April / Mai 2015

Von Peter Sandmeyer

Auf einer Englandreise wollte Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, einen Abstecher nach Tunstall machen, dem nördlichsten Punkt, an dem der Nullmeridian Land berührt. Doch er versah sich im Busfahrplan, es begann zu regnen, und die persönliche Begegnung mit dem Meridian fiel ins Wasser.

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Vita Auf einer Englandreise wollte Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, einen Abstecher nach Tunstall machen, dem nördlichsten Punkt, an dem der Nullmeridian Land berührt. Doch er versah sich im Busfahrplan, es begann zu regnen, und die persönliche Begegnung mit dem Meridian fiel ins Wasser.
Person Von Peter Sandmeyer
Vita Auf einer Englandreise wollte Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Autor in Hamburg, einen Abstecher nach Tunstall machen, dem nördlichsten Punkt, an dem der Nullmeridian Land berührt. Doch er versah sich im Busfahrplan, es begann zu regnen, und die persönliche Begegnung mit dem Meridian fiel ins Wasser.
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