Allein im Atlantik

Wildpferde sind die einzigen Bewohner von Sable Island, einer einsa­men, kleinen Insel im kalten Nordatlantik vor Neufundland. Sie leben hier schon seit Jahrhunderten

Eine winzige Insel, etwa 300 Kilometer östlich von Halifax, weit vor der Küste Kanadas im Atlantik gelegen, ist der Schauplatz erstaunlicher Geschichten. Eine Schrift von 1858 berichtet etwa von der „Nebelhüttenherde“. „So heißt eine Herde von freien Pferden, die ihre wilden Mähnen werfen und sich von dem wilden Gras am Strand ernähren, das die Spazierwege des Gespenstes säumt.“ Ein Gespenst? Ja, man munkele, so heißt es weiter, dass eine Frau, die Opfer einer Schiffsunglücks geworden war, nun als körperlose Gestalt auf der Insel herumwandert und nach ihrer verlorenen Uhr sucht. Das Kind eines Strandräubers habe die Pferde von einer Hütte aus gesehen, eben jene „Nebelhüttenherde“.

Die Insel, über die der Autor der Schrift schreibt, heißt Sable Island und trägt bis heute einen ziemlich gruseligen Beinamen: „Friedhof des Atlantiks“. Sable Island, oft im dichten Nebel versteckt, lag so nahe an wichtigen Schifffahrtsrouten, dass immer wieder große Schiffe vor seiner Küste auf Grund liefen. Das erste, von dem man es sicher weiß, sank 1583. Danach 350 weitere. Bald erzählte man sich, die Verstorbenen kehrten als Pferde wieder.

Tatsächlich lebten auf Sable damals Pferde. Und sie leben noch heute dort. In kleinen Herden ziehen die Sable-Island-Pferde über die Dünen; es sind 200 bis 350 Exemplare. Wenn mehrere milde Winter aufeinander folgen, wächst die Population auf 400 Tiere an, doch dann rafft der nächste harte Winter die schwächeren Jungtiere und die alten Pferde dahin. Nur zwei Menschen wohnen dort, manchmal fünf, auf einer meteorologischen Forschungsstation. Die Anreise ist schwierig. Um auf die Insel zu gelangen, braucht man eine Genehmigung und muss ein Flugzeug chartern. Oft verhindert der Nebel die Reise, oder der Strand, der als Landeplatz dient, ist überschwemmt.

Halbmondförmig liegt die baumlose Insel im Atlantik, 42 Kilometer lang, zwei Kilometer breit, eine Sandbank. Im Norden und Süden verlaufen lange Strände parallel, dazwischen schmiegen sich Sanddünen. Ein Reservoir unter der Insel versorgt Pflanzen und Tiere mit Süßwasser. Es ist ein fragiles Ökosystem, dem sich die einst domestizierten Pferde angepasst haben.

In der Tat gäbe es die Pferde ohne den Menschen nicht. Im Jahr 1755 hatten die Briten beschlossen, die französischen Einwohner Nordostamerikas, die Akadier, aus ihren neuen Provinzen zu vertreiben. Der Bostoner Geschäftsmann Thomas Hancock gehörte zu jenen, die mit der Verschiffung der Akadier beauftragt waren. Diese mussten ihr Vieh zurücklassen; im Jahr 1755 sollen es 12 500 Pferde gewesen sein. Hancock witterte ein gutes Geschäft und ließ wohl einige der Pferde über Sable Island in die Karibik transportieren.

Versuche, dauerhaft Menschen auf der Insel anzusiedeln, waren zuvor fehlgeschlagen. Ein Pastor hatte 1737 Land auf Sable Island erworben und Nutztiere, auch Pferde, dorthin gebracht. Doch 1753 erschien im „Boston Weekly News Paper“ folgende Annonce: „Zu verkaufen von mir, dem Unterzeichner, Andrew Le Mercier, Pastor der französischen Kirche, die Insel Sables“. In den Quellen heißt es, der Pastor habe verkaufen müssen, weil immer wieder sein Vieh gestohlen wurde und er dadurch Verluste erlitten habe. Sable sei im Lauf der Zeit zu einem Anziehungspunkt für „Männer mit berüchtigtem Charakter und ausweglosem Schicksal“ geworden.


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mare No. 98

No. 98Juni / Juli 2013

Von Judith Scholter und Roberto Dutesco

Judith Scholter, geboren 1980, Autorin in Hamburg, kennt sich aus mit halb wilden Pferden. Als Jugendliche kümmerte sie sich um einen Dülmener, den Nachfahren einer deutschen Wildpferderasse. Der rumänische Fotograf Roberto Dutesco, Jahrgang 1961, wohnhaft in New York, war beeindruckt von der „echten Wildnis in ihrem Urzustand“, die er auf Sable Island vorfand.

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Vita Judith Scholter, geboren 1980, Autorin in Hamburg, kennt sich aus mit halb wilden Pferden. Als Jugendliche kümmerte sie sich um einen Dülmener, den Nachfahren einer deutschen Wildpferderasse. Der rumänische Fotograf Roberto Dutesco, Jahrgang 1961, wohnhaft in New York, war beeindruckt von der „echten Wildnis in ihrem Urzustand“, die er auf Sable Island vorfand.
Person Von Judith Scholter und Roberto Dutesco
Vita Judith Scholter, geboren 1980, Autorin in Hamburg, kennt sich aus mit halb wilden Pferden. Als Jugendliche kümmerte sie sich um einen Dülmener, den Nachfahren einer deutschen Wildpferderasse. Der rumänische Fotograf Roberto Dutesco, Jahrgang 1961, wohnhaft in New York, war beeindruckt von der „echten Wildnis in ihrem Urzustand“, die er auf Sable Island vorfand.
Person Von Judith Scholter und Roberto Dutesco