Aliens der Tiefsee

Die gut 10 000 Arten Schuppenwürmer in den Meeren sind höchst interessante Kreaturen, die es geschafft haben, sich an extremste Lebensbedingungen anzupassen. Wer würde da auf Äußerlichkeiten schauen?

Man soll ja niemanden nach seinem Äußeren beurteilen. Erst recht nicht, wenn derjenige uns auf Bildern begegnet, die durch Abtastung mit einem Rasterelektronenmikroskop entstanden sind, so wie die Porträts auf diesen Seiten. Sie zeigen Würmer aus der Klasse der Vielborster, die in einem der extremsten Lebensräume der Erde zu Hause sind – den sogenannten heißen Quellen am Grund des Atlantischen und Pazifischen Ozeans.

Vielborstige Ringelwürmer oder Polychaeten sind entfernte Verwandte unseres gewöhnlichen Regenwurms, der sich allerdings schon wegen seiner sparsamen Behaarung als Oligochaet, also Wenigborster, outet. Mit mehr als 10 000 Arten, unterteilt in etwa 25 Ordnungen und 80 Familien, gehören die Vielborster zu den formenreichsten Tiergruppen überhaupt. Die meisten der hier gezeigten Tiere entstammen der großen Familie der Schuppenwürmer (Polynoidae), deren Angehörige wie alle Vielborster ausschließlich im Meer zu finden sind, wo sie eine Vielzahl von Lebensräumen, von der Tiefsee bis zum Gezeitenbereich, bewohnen.

Gemeinsam ist fast allen rund 1000 Schuppenwurmarten die räuberische Lebensweise, der auch die beeindruckenden Mundwerkzeuge geschuldet sind. Überhaupt erinnert das Äußere des Wurmes spontan an den bösartigen Außerirdischen in Ridley Scotts Filmklassiker „Alien“. Dazu passt auch die Mechanik seines raubtierhaften Gebisses, das aus einem extrem festen, chitinartigen Material besteht. Es sitzt am Ende eines kurzen Rüssels, der normalerweise ins Kopfende des Wurmes eingezogen ist. Erst beim Zugriff stülpt der Wurm diesen Greifapparat blitzschnell aus, und die spitzen Kiefer packen das überraschte Opfer, das meist im Ganzen verschlungen wird.

Im Gegensatz zum raumfahrermordenden Alien verspeisen die meist nur einige Zentimeter langen und im echten Leben oftmals recht hübsch und farbenfroh anzusehenden Schuppenwürmer allerdings nur marines Kleingetier ohne Rückgrat wie Krebstiere, Schnecken oder andere Würmer, vielleicht auch einmal einen unvorsichtigen Fisch. Ein schmerzhafter Biss in die Finger vorwitziger Forscher ist höchstens von den wenigen größeren Arten zu befürchten, zu denen die erst 2003 vor Papua-Neuguinea entdeckte Spezies Polyodontes vanderloosi zählt. Das inzwischen in einem Museum im australischen Darwin lagernde Exemplar, das der Erstbeschreibung zugrunde liegt, misst gut einen halben Meter.

Auf die Länge allein kommt es aber auch bei Schuppenwürmern nicht an. Anders als ihre erdreichbewohnenden Verwandten sind sie in der Regel eher flach und gedrungen gebaut. Den Rücken bedecken zwei Reihen von Schuppen, die den Würmern ihren Namen und Schutz vor Angreifern geben. „Schuppenwürmer entsprechen damit nicht eben dem Bild, das sich die meisten Menschen von einem Wurm machen“, sagt Ruth Barnich, Biologin und Schuppenwurmexpertin vom Frankfurter Naturmuseum Senckenberg.

Ganz wurmuntypisch erscheint dem Laien auch die Fortbewegung der Tiere, die erstaunlich flott über Sand und Steine kriechen können. Dabei besitzen sie wie alle Vielborster keine echten Gliedmaßen, sondern nur sogenannte Parapodien: seitliche, nur als Ganzes bewegliche Scheinfüßchen, aus denen die namengebenden Borsten ragen. „Die Borsten können bei der Bewegung des Parapodiums nach vorne aber eingezogen und bei der Bewegung nach hinten wieder ausgestreckt werden“, erklärt Barnichs Kollege Dieter Fiege, Leiter der Abteilung für marine Würmer am Senckenberg. Die effektive Fortbewegung der Tiere erinnert eher an einen wohl koordinierten Hundertfüßer als an einen unbeholfenen Wurm.

Die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen dem Stamm der Ringelwürmer und dem noch viel größeren Stamm der Gliederfüßer, zu dem unter anderen Insekten, Krebse und Hundertfüßer gehören, fielen Tierkundlern schon früh auf. Bereits 1817 fasste der französische Zoologe Georges Cuvier beide Stämme deshalb zur Verwandtschaftsgruppe der Gliedertiere oder Articulata zusammen. Cuvier sah in den Ähnlichkeiten verschiedener Tiergruppen noch das Werk eines göttlichen Schöpfers – frühe Ansätze einer Lehre der graduellen Evolution waren ihm zuwider.

Doch seine These von der Verwandtschaft aller Gliedertiere überlebte den Siegeszug von Charles Darwins Idee nicht nur, sie blühte sogar auf. Im Licht der Evolutionstheorie deutete man die Ähnlichkeiten der Körper, die im Baukastenprinzip aus vergleichbar gebauten Segmenten zusammengesetzt sind, als Indiz für eine gemeinsame Abstammung aller Gliedertiere von wurmähnlichen Vorfahren.


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mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Georg Rüschemeyer

Auch als Biologe konnte sich Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist im britischen York, der Wirkung der Bilder von Schuppenwürmern nicht entziehen. Zu Beginn seiner Recherche träumte er erst einmal ausgiebig von körperfressenden Aliens.

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Vita Auch als Biologe konnte sich Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist im britischen York, der Wirkung der Bilder von Schuppenwürmern nicht entziehen. Zu Beginn seiner Recherche träumte er erst einmal ausgiebig von körperfressenden Aliens.
Person Von Georg Rüschemeyer
Vita Auch als Biologe konnte sich Georg Rüschemeyer, Jahrgang 1970, freier Wissenschaftsjournalist im britischen York, der Wirkung der Bilder von Schuppenwürmern nicht entziehen. Zu Beginn seiner Recherche träumte er erst einmal ausgiebig von körperfressenden Aliens.
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