Ali Mitgutsch, Dieter Kosslick, Gesine Schwan, Volker Lösch

ALI MITGUTSCH
Bilderbuchautor und Illustrator

Meine erste Reise zum Meer habe ich mit 13 oder 14 gemacht. Mein Vater arbeitete bei der Bahn, er bekam jedes Jahr einige Freifahrtscheine, auch für uns Kinder. Im Herbst setzte ich mich in den Zug und fuhr los, ganz allein, einen Koffer besaß ich nicht, meine Ersatzunterwäsche war in einer kleinen Pappschachtel, die ich mit einer Schnur umwickelt hatte. Für meine Reise hatte ich mir den von München am weitesten entfernten Ort in Deutschland ausgesucht, List auf Sylt. Es war eine Enttäuschung. Auf Sylt regnete es die ganze Zeit, überall war feuchter, kalter Sand, in meinen Schuhen und meinen Kleidern. Und auf dem Fischkutter, auf dem ich mitfahren durfte, wurde mir entsetzlich übel. Aufregend war es natürlich trotzdem.

Eine spätere Reise aber hat meine Beziehung zum Meer nachhaltig geprägt, bis heute. Ich fuhr nach Indien mit meinem Neffen, wir waren 22 oder 23 Jahre alt. Wir wollten von Kalkutta aus die Westküste des Landes hinunter bis nach Pune. Es tobte ein Hurrikan in der Region, die Zugverbindung war für Tage unterbrochen. Als wir nach einer strapaziösen Reise in heillos überfüllten Zügen in Pune ankamen, suchten wir uns ein kleines Hotel an der Küste und machten uns auf ans Meer.

Am Strand waren die Wellen haushoch. Der Hurrikan war weitergezogen, aber sein Ausläufer peitschte das Wasser immer noch viele Meter hoch. Alles, was wir bei unseren Urlauben am Mittelmeer bisher gesehen hatten, jeder Sturm, jedes Unwetter, war Kinderkram dagegen. Aber das schreckte uns nicht. Wir fühlten uns im Vollbesitz unserer Kräfte und kannten das Meer von zahlreichen Reisen, wussten mit Wellen und Brandung umzugehen. Dachten wir zumindest.
Die Wellen liefen am Strand in einem Streifen von ungefähr 40, 50 Metern aus. Ein Teppich von sprudelnder, aufgewühlter, weißer Gischt. Dahinter, jenseits des Scheitelpunkts der Welle, so glaubten wir, wäre es vergleichsweise sicher. Auch wenn uns das Wasser nur bis zur Hüfte ging, war kaum ein Durchkommen, das Meer brandete mit unglaublicher Kraft an den Strand. Verbissen kämpften wir uns vorwärts, die Brandung riss an meinen Armen und drohte mich von den Füßen zu fegen.

Irgendwann spürte ich, dass der Druck nachließ. Ich watete noch ein kleines Stück, dann drehte ich mich zu meinem Neffen um, ruderte mit den Armen und rief ihm zu: „Geschafft! Ich bin durch!“ Ich sah, wie er die Augen aufriss, wild gestikulierte und schrie, aber ich konnte ihn durch das Toben des Meeres nicht verstehen. In dem Moment, in dem ich mich wieder umdrehte, sah ich wie eine sechs oder sieben Meter hohe Welle über mir zusammenbrach. Sie stampfte mich mit brutaler Gewalt in den Sandboden. Ich dachte, ich sterbe. Tonnen von Wasser prallten auf meinen Körper, zudem hatte ich kaum Luft in der Lunge, da ich gerade noch meinem Neffen zugerufen hatte.

Ich kämpfte verzweifelt, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Irgendwann gelang es mir, wie ein Korken ploppte ich aus dem Wasser. Aber in dem Moment, an dem ich die Wasseroberfläche durchstieß und in höchster Not Luft in meine Lunge saugen wollte, brach die nächste Welle über mir zusammen. Ich überschlug mich, wurde von den Wassermassen hin- und hergeworfen, ohne Kontrolle über meine Gliedmaßen. Wie in einer Waschmaschine. Wieder gelang es mir, mich mit letzter Kraft an die Oberfläche zu kämpfen. Wieder erwischte mich die nächste Welle. Ein ums andere Mal. Meine Kräfte verließen mich, mir wurde schwarz vor Augen. „Das war es jetzt, es ist aus“, dachte ich.

Dann, kurz vor der Bewusstlosigkeit, gelang es mir irgendwie, eine Welle im richtigen Moment zu erwischen. Während ich das Bewusstsein verlor und es um mich herum dunkler wurde, trug sie mich weg aus dem Toben des Wassers und schob mich in Richtung Strand, aus der Gefahrenzone. Ich konnte wieder atmen, ohne dass die nächste Welle Wasser in meine Lungen spülte. Mein Neffe, ein großer, breiter Kerl von der Statur Bud Spencers, hatte bisher keine Chance gehabt, durch die Wand schäumenden Wassers zu mir zu gelangen. Jetzt packte er mich an den Haaren und zog mich aus der Gischt. Er warf mich wie einen nassen Sack über seine Schulter und watete an Land. Das Salzwasser lief in Schüben aus meinem Mund und meiner Nase. Zurück im Hotel, bekam ich hohes Fieber und konnte tagelang mein Bett nicht verlassen. Ich war im allerletzten Moment dem Tod von der Schippe gesprungen, davon bin ich noch heute überzeugt.

Dieser Moment hat etwas verändert. Bis dahin hatte ich stets eine tiefe Kameradschaft mit dem Meer gespürt, ich fühlte mich in den Wellen wohl, sicher und getragen. Das Meer war mein Freund. An diesem Tag, an dem ich die brutale, gnadenlose Kraft der Naturgewalt gespürt habe, wurde mein Glaube an meine eigene Unsterblichkeit erschüttert. Das Meer war mir fremd geworden, ein unkontrollierbares Element, das keine Rücksicht auf mich nahm. Noch heute liebe ich das Meer, genieße es, bei ruhigem Wellengang darin zu schwimmen und sein Rauschen durch das offene Fenster zu hören.

Aber die tiefe, angstfreie Verbundenheit ist respektvoller Vorsicht gewichen.

 

DIETER KOSSLICK
Direktor der Filmfestspiele Berlin

Der Schwarzwald ist ein Wald und kein Meer. Dort, im Süden Deutschlands, wo ich geboren bin, gibt es kein großes Wasser. Aber in einer Tagesreise konnten wir ein großes Meer erreichen. Später stellte sich heraus, dass der Bodensee gar kein Meer ist.

Trotzdem ist dieser wunderschöne See für mich bis heute ein Sehnsuchtsort, den ich oft besuche. Das Eckzimmer 14 der Pension Münz erlaubt grandiose Blicke auf friedliches, stürmisches, hellblaues und schwarzgraues Wasser. Dort geht’s mir gut. Später, als ich von München nach Hamburg zog, landete ich wohnungsmäßig in der Nähe der Landungsbrücken. Auf den schwankenden Pontons, mit Fischbrötchen und Fritten in der Hand, roch ich die Brise Meer. Irgendetwas von Freiheit, vermischt mit Urlaubsgefühlen, hatte dieser Erkundungsspaziergang, es war ein schöner Sonntag, ach, Hamburg, du schönstes Tor zur Welt, zur Wasserwelt. ...

 

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mare No. 100

No.100Oktober / November 2013

Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.

Ali Mitgutsch (1935-2022), geboren als Alfons Mitgutsch in München, ist Grafiker, Zeichner und Schriftsteller. Mitte der 1960er Jahre begann er Kinderbücher zu illustrieren, er ist der Erfinder der „Wimmelbilderbücher“, die Generationen von Kindern begeisterten. Bis heute erhältlich sind unter anderem meeresaffine Klassiker wie „Mein Piraten- Wimmelbuch“ und „Komm mit ans Wasser“. Inspiration für seine Werke waren seine zahlreichen Reisen und die Tagträume seiner Kindheit.

Dieter Kosslick (Jahrgang 1948) machte sich nach seiner Zeit als Redenschreiber und Kulturredakteur in den 1990er Jahren als Gesch ftsführer der Filmstiftung NRW einen Namen. In den Jahren seiner Arbeit entwickelte sich Nordrhein-Westfalen zum führenden deutschen Filmstandort. Aufgrund seines Erfolgs wurde der geborene Pforzheimer schließlich zum Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin, der Berlinale, ernannt.

Gesine Schwan (Jahrgang 1943) wuchs in West- Berlin auf. An der Überwindung der Grenze arbeitete sie ihr Leben lang: als Doktorandin in Warschau und Krakau, als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und als Koordinatorin der Bundesregierung für die grenznahe Zusammenarbeit mit Polen. Zweimal war sie Kandidatin von SPD und Grünen für das Amt der Bundespräsidentin. Heute ist sie Präsidentin der von ihr mitgegründeten Humboldt- Viadrina School of Governance.

Volker Lösch (Jahrgang 1963) wollte unbedingt Kapitän zur See werden – und ließ sich dann doch vom Theater verlocken. Als Regisseur arbeitete er unter anderem an Bühnen in Zürich, Dresden, Stuttgart, Hamburg und Berlin.

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Vita

Ali Mitgutsch (1935-2022), geboren als Alfons Mitgutsch in München, ist Grafiker, Zeichner und Schriftsteller. Mitte der 1960er Jahre begann er Kinderbücher zu illustrieren, er ist der Erfinder der „Wimmelbilderbücher“, die Generationen von Kindern begeisterten. Bis heute erhältlich sind unter anderem meeresaffine Klassiker wie „Mein Piraten- Wimmelbuch“ und „Komm mit ans Wasser“. Inspiration für seine Werke waren seine zahlreichen Reisen und die Tagträume seiner Kindheit.

Dieter Kosslick (Jahrgang 1948) machte sich nach seiner Zeit als Redenschreiber und Kulturredakteur in den 1990er Jahren als Gesch ftsführer der Filmstiftung NRW einen Namen. In den Jahren seiner Arbeit entwickelte sich Nordrhein-Westfalen zum führenden deutschen Filmstandort. Aufgrund seines Erfolgs wurde der geborene Pforzheimer schließlich zum Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin, der Berlinale, ernannt.

Gesine Schwan (Jahrgang 1943) wuchs in West- Berlin auf. An der Überwindung der Grenze arbeitete sie ihr Leben lang: als Doktorandin in Warschau und Krakau, als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und als Koordinatorin der Bundesregierung für die grenznahe Zusammenarbeit mit Polen. Zweimal war sie Kandidatin von SPD und Grünen für das Amt der Bundespräsidentin. Heute ist sie Präsidentin der von ihr mitgegründeten Humboldt- Viadrina School of Governance.

Volker Lösch (Jahrgang 1963) wollte unbedingt Kapitän zur See werden – und ließ sich dann doch vom Theater verlocken. Als Regisseur arbeitete er unter anderem an Bühnen in Zürich, Dresden, Stuttgart, Hamburg und Berlin.

Person Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.
Vita

Ali Mitgutsch (1935-2022), geboren als Alfons Mitgutsch in München, ist Grafiker, Zeichner und Schriftsteller. Mitte der 1960er Jahre begann er Kinderbücher zu illustrieren, er ist der Erfinder der „Wimmelbilderbücher“, die Generationen von Kindern begeisterten. Bis heute erhältlich sind unter anderem meeresaffine Klassiker wie „Mein Piraten- Wimmelbuch“ und „Komm mit ans Wasser“. Inspiration für seine Werke waren seine zahlreichen Reisen und die Tagträume seiner Kindheit.

Dieter Kosslick (Jahrgang 1948) machte sich nach seiner Zeit als Redenschreiber und Kulturredakteur in den 1990er Jahren als Gesch ftsführer der Filmstiftung NRW einen Namen. In den Jahren seiner Arbeit entwickelte sich Nordrhein-Westfalen zum führenden deutschen Filmstandort. Aufgrund seines Erfolgs wurde der geborene Pforzheimer schließlich zum Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin, der Berlinale, ernannt.

Gesine Schwan (Jahrgang 1943) wuchs in West- Berlin auf. An der Überwindung der Grenze arbeitete sie ihr Leben lang: als Doktorandin in Warschau und Krakau, als Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und als Koordinatorin der Bundesregierung für die grenznahe Zusammenarbeit mit Polen. Zweimal war sie Kandidatin von SPD und Grünen für das Amt der Bundespräsidentin. Heute ist sie Präsidentin der von ihr mitgegründeten Humboldt- Viadrina School of Governance.

Volker Lösch (Jahrgang 1963) wollte unbedingt Kapitän zur See werden – und ließ sich dann doch vom Theater verlocken. Als Regisseur arbeitete er unter anderem an Bühnen in Zürich, Dresden, Stuttgart, Hamburg und Berlin.

Person Die Texte der Autorinnen und Autoren sind aus dem Jahr 2013.
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