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Für die Tiefseetaucher der Ölkonzerne war der Einsatz in der Nordsee wie Krieg: Verstümmelung und Tod gehörten zum Berufsrisiko

Das Haus ist im Rohbau seit Jahren, wie eingefroren. Wärme dringt nur aus der Garage, wo der Caravan steht, ein Lebensraum auf Rädern. Auf seinem Dach stehen ein Dutzend Sportpokale, auf Kisten kauern Spielzeugmonster, überall wachsen Berge aus Plunder und Papier. Über die wacht der Papagei Mosche, einäugig wie der legendäre israelische Außenminister Moshe Dayan. So wohnt, mit seinem 13-jährigen Sohn Tor und seiner Frau Merete, der Taucher Tom Engh. Der Mann, der an einem Novembertag des Jahres 1977 in 45 Meter Wassertiefe den Stolz des Staates Norwegen rettete, mehrere Menschenleben und den Gegenwert von gut 450 Millionen US-Dollar. Tom Engh, 57, ehemaliger norwegischer Meister im Schwimmen, ausgebildet als Taucher der Kriegsmarine, lebt wie in einer Muschelschale vor den Toren der Hauptstadt am Oslofjord. Verarmt, doch nicht vereinsamt. Verzweifelt? Manchmal.

1977 war die Bohrplattform „Cormorant A“ mit ihrer neuartigen Betonbauweise die größte Innovation der aufstrebenden Ölindustrie Norwegens. Die Plattform der Condeep-Baureihe wurde auf ihrem Weg in die offene Nordsee, wo sie verankert werden sollte, Drucktests an ihren Verstrebungen unter Wasser unterzogen. Engh war nicht von Dollar in die Ölbranche gelockt worden, wie Taucher aus vielen Ländern damals. Den späteren Feuerwehrtaucher hatte die Regierung gedrängt, mit den im Ölbusiness der Nordsee dominierenden Amerikanern zusammenzuarbeiten, denn Norwegen brauchte jeden Fachmann beim Aufbau seiner neuen, strategisch wichtigen Milliardenindustrie. An diesem Tag war Engh schon zurück aus der See und hatte Dienst an der Winde für die Taucherglocke, als plötzlich Salzwasser aus dem 157 Meter hohen Turm der Plattform schoss.

In 45 Meter Wassertiefe hatten andere Taucher versehentlich zwei Ventile in einer Säule geöffnet, die nicht wieder geschlossen werden konnten. Durch den Druck des Eigengewichts speiste die 380000 Tonnen schwere „Cormorant A“ eine gigantische Wasserfontäne, unter der sich die Konstruktion zu neigen begann. Schon wurde evakuiert, alle Schiffe im Umkreis gingen auf Sicherheitsdistanz. Doch der Tauchsupervisor an Deck der „Cormorant A“, dem Engh wie einem Bruder vertraute, schickte ihn als seinen besten Mann nach unten – mit einem irrwitzigen, dem einzig aussichtsreichen Plan: die 40 und 30 Zentimeter großen Löcher, die mit gewaltigem Unterdruck alles in weitem Umkreis in sich hineinsogen, mit Metallplatten abzudecken. Ohne Tauchglocke, ohne Reserveflasche, nur mit dem Nötigsten, schnell, schnell.

Unten verlor Engh als Erstes seine Lampe, die in eins der Löcher gerissen wurde. „Nun war es vollständig dunkel. Es gab nur die Strömung und diesen unglaublichen Lärm, den das Wasser machte. Sehr tief, sehr beunruhigend. So etwas hatte ich nie zuvor gehört. Ich höre diesen Ton seitdem jeden Tag, selbst jetzt, wenn wir sprechen.“ Der Taucher näherte sich dem größeren Loch von unten her. „Ich hielt diese Metallplatte über meinem Kopf und wurde hochgesogen. Wäre sie nicht im ersten Anlauf drauf gewesen, wäre ich zu Spaghetti verarbeitet worden.“ Doch das Wunder geschah, zwei Mal. Tom Engh stoppte die Fontäne bei einem Neigungswinkel der Plattform von elf Grad. Bei 13 Grad wäre sie gekentert, eine halbe Milliarde Dollar versunken. Wie er wieder nach oben kam, weiß Engh bis heute nicht. Der Nachweis ergiebiger Ölfelder in der Nordsee ab 1965 und ihre Ausbeutung haben Norwegen zum viertreichsten Land der Welt gemacht. Heute stammen 16 Prozent des norwegischen Sozialprodukts aus der Öl- und Gasförderung. Norwegen ist der zweitgrößte Ölexporteur nach Saudi-Arabien. 73000 Beschäftigte oder drei Prozent aller Jobs in Norwegen hängen davon ab. Doch die ersten beiden Jahrzehnte der Erdölproduktion, die Ära des Wilden Nordens ohne Erfahrung und Sicherheitsstandards, ohne Regulierungen und Kontrollen, sind wie aus den Annalen gestrichen: die Ära der Pioniertaucher in der Ölindustrie.

Am Tag nach der Rettung der „Cormorant A“ wurde die Tauchcrew vom Management auf Jahre in alle Winde zerstreut, zu Einsätzen auf verschiedenen Erdteilen. Sowohl Industrie als auch Staat legten Engh und seinen Kollegen nahe, dass dieses Ereignis niemals stattgefunden habe. Eine Lokalzeitung brachte eine Notiz über ein technisches Problem. Für den Supervisor allerdings gab es eine Anerkennung: 1400 Flaschen geschmuggelten Whiskys. Tom Engh, von allen Kollegen getrennt, hat keine davon gesehen.

Etwa 400 Taucher waren zwischen 1965 und 1980 in der Nordsee am Werk. Sie arbeiteten ohne Limits, ohne gewerkschaftliche Vertretung, oft ohne ausreichende Ausbildung. Sie wagten mit zusammengeschusterter Ausrüstung, was zivile Taucher nie zuvor gewagt hatten. Sie verlegten Pipelines selbst in 360 Meter Tiefe. Erst im September hat die Regierung nach mehr als 35 Jahren Tiefseetauchen in der Nordsee angeordnet, dass Taucher nicht mehr als 180 Meter hinunter dürfen. Heute, wo es noch eine Handvoll Aktiver gibt. Die Hysterie, die Unfälle und Beinahekatastrophen der frühen Jahre scheint die Nordsee verschluckt zu haben.


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mare No. 43

No. 43April / Mai 2004

Von Oliver Driesen und Mathias Bothor

Oliver Driesen, Jahrgang 1966, ist Wirtschaftsjournalist und freier Autor in Hamburg. In der Pathologie der Universitätsklinik Bergen sah er ein Stück des Gehirns eines verstorbenen Tauchers: den Hippocampus, verantwortlich für das Kurzzeitgedächtnis. Wie man ihm versicherte, ohne erkennbaren Befund.

Der Berliner Porträtfotograf Mathias Bothor, Jahrgang 1962, führte mit jedem Taucher lange Gespräche. „Sie waren anfangs sehr verschlossen“, so Bothor, „doch die starken Männer später weinen zu sehen war genauso schlimm.“

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Vita Oliver Driesen, Jahrgang 1966, ist Wirtschaftsjournalist und freier Autor in Hamburg. In der Pathologie der Universitätsklinik Bergen sah er ein Stück des Gehirns eines verstorbenen Tauchers: den Hippocampus, verantwortlich für das Kurzzeitgedächtnis. Wie man ihm versicherte, ohne erkennbaren Befund.

Der Berliner Porträtfotograf Mathias Bothor, Jahrgang 1962, führte mit jedem Taucher lange Gespräche. „Sie waren anfangs sehr verschlossen“, so Bothor, „doch die starken Männer später weinen zu sehen war genauso schlimm.“
Person Von Oliver Driesen und Mathias Bothor
Vita Oliver Driesen, Jahrgang 1966, ist Wirtschaftsjournalist und freier Autor in Hamburg. In der Pathologie der Universitätsklinik Bergen sah er ein Stück des Gehirns eines verstorbenen Tauchers: den Hippocampus, verantwortlich für das Kurzzeitgedächtnis. Wie man ihm versicherte, ohne erkennbaren Befund.

Der Berliner Porträtfotograf Mathias Bothor, Jahrgang 1962, führte mit jedem Taucher lange Gespräche. „Sie waren anfangs sehr verschlossen“, so Bothor, „doch die starken Männer später weinen zu sehen war genauso schlimm.“
Person Von Oliver Driesen und Mathias Bothor