Aber am Ende – das Meer!

Meer und Seefahrt prägen den Beginn der literarischen Karriere des jungen Augsburger Dichters Bertolt Brecht

Am Abend des 27. Juli 1920 geht der junge Bertolt Brecht mit seiner Freundin Hedda Kuhn in die Augsburger Bavaria-Lichtspiele und sieht sich den Stummfilm „Der Seelenverkäufer“ an. Anschließend schreibt er in sein Tagebuch: „Szenen auf dem Meer. Warum gibt es keine Piratenfilme? Ich schreibe einmal welche.“ Da er knapp bei Kasse ist und seine andere Freundin Bie ihm gerade einen Sohn geboren hat, schiebt der 22-Jährige das Projekt nicht auf die lange Bank, zumal man beim Film besser verdient als am Theater. Bereits im März 1921 arbeitet er an drei Drehbüchern zugleich. Das Thema hatte ihn schon vorher fasziniert: Die berühmte „Ballade von den Seeräubern“ entstand unter dem Eindruck von Rimbauds „Trunkenem Schiff“ im November 1918, als Brecht im Augsburger Reservelazarett als Schreiber Dienst schieben musste. Ein Jahr später schreibt er die Flibustiergeschichte „Bargan lässt es sein“, zu der Stevensons „Schatzinsel“ Pate gestanden hat.

Man könnte die Zeit zwischen 1918 und 1921 als Brechts literarische Seefahrerjahre bezeichnen, auch wenn er damals über Kahnfahrten auf dem Starnberger See und Schiffsschaukeln auf dem Augsburger Plärrer nicht hinausgekommen ist. Auf diesem Volksfest trat ein einbeiniger Hamburger Bänkelsänger auf, der Seemannsballaden zum Besten gab. Brecht ließ ihn später in der „Dreigroschenoper“ die Ballade von Mackie Messer singen, die seitdem mit dem berühmten Haifisch um die Welt geht. Zwischen 1920 und 1922 entstehen die Seestücke der „Hauspostille“ wie die „Ballade auf vielen Schiffen“ und die von der „Dirne Evelyn Roe“, aber auch die Erzählung „Die Flaschenpost“, der Operettenentwurf „Die Fleischbarke“ und das Drehbuch zum „Mysterium der Jamaika-Bar“. Immer wenn ihn inmitten all dieser Projekte Verzweiflung wegen abgelehnter Stücke oder geplatzter Veröffentlichungen befällt, sieht er von seiner Dachkammer aus einen fernen Hoffnungsschimmer. „Mittags erhebe ich mich und sehe: das Meer“, vertraut er seinem Tagebuch an. „Komme, was mag, aber am Ende: das Meer!“ Woher kam so viel Meeressehnsucht an den Ufern des Lechs? Vielleicht, weil Augsburg so fernab aller Häfen und Küsten lag und so nervtötend gutbürgerlich war für einen Dichter, der seine Balladen am liebsten zur Laute in den Wirtshausgärten am Kanal sang.

Das musikalische Talent hatte er vom Vater geerbt, der als Vorstand der Augsburger Liedertafel gern Schuberts „Am Meer“ zum Besten gab. Die Gesänge des jungen Brecht verfehlen ihren Eindruck auf die künstlerisch interessierte Damenwelt ebenfalls nicht. Wenn sie dem blassen Jüngling mit der Nickelbrille auch nicht den Abenteurer und Absinthtrinker abnehmen, so sind seine Gedichte und Geschichten doch aufregender als das, was die expressionistische Konkurrenz zu bieten hat. Brecht merkt schnell, wie gut der Cocktail aus Exotik und Erotik beim weiblichen Publikum ankommt. Er liest Rudyard Kipling und die Briefe Gauguins aus Tahiti, um den Sound zu verbessern. Das funktioniert: Mit seiner nächsten Freundin, der Opernsängerin Marianne Zoff, die er wegen ihres dunklen Teints sein „Maorimädchen“ nennt, erobert er eine der schönsten Frauen Augsburgs. Da auch sie bald schwanger wird und seine Theaterpläne in München nicht vorankommen, sieht er sich anderweitig um. Er reist nach Berlin, um dort mit Intendanten, Verlegern und Filmleuten zu verhandeln. An der Spree entdeckt er, inspiriert von Upton Sinclair, die Großstadt als Dschungel und schreibt mit „Im Dickicht der Städte“ sein drittes Stück. Doch das Meer und die Seefahrt werden ihn weiterhin begleiten.

Im Berlin der zwanziger Jahre wogt nicht nur Jazz- und Amerikabegeisterung, sondern auch eine Südseewelle. Sogar Gottfried Benn schreibt Südseegedichte, und Brecht verfasst mit seinem Freund Arnolt Bronnen das Drehbuch zu einer „Robinsonade auf Assuncion“, in der die Wogen der Exotik hochgehen. Obwohl er noch 1925 davon geträumt hatte, sich von einer Zeitung nach Tahiti schicken zu lassen, verhöhnt er diesen Wunsch ein Jahr später als den „Traum des kleinen Moritz“. Deshalb entwirft er 1926 eine satirische Südseerevue für Max Reinhardt, in der neben Szenen mit Robinson und Tarzan auch die Bändigung eines Tigers auf Sumatra durch den bloßen Blick einer starken Berliner Persönlichkeit vorgesehen ist. Reinhardts Star Max Pallenberg soll auf der Bühne den Dschungel von Tahiti urbar machen und dabei Kultur in seine Gattin Fritzi Massary verpflanzen, die als Eingeborene auf der Besetzungsliste steht. Ironisch schließt Brecht sein Exposé mit den Worten: „Amerika ist schön. Südsee ist schön. Wie schön muss erst eine erstklassig amerikanisierte Südsee sein!“


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mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Holger Teschke

Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen, ist Autor und Regisseur in Berlin und lehrt Theatergeschichte in Berlin und Boston. Der gelernte Maschinist fuhr zwei Jahre zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er war Dramaturg am Berliner Ensemble und übersetzte und bearbeitete Shakespeare, Dostojewski und Robert Louis Stevenson. Teschke schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik.

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Vita Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen, ist Autor und Regisseur in Berlin und lehrt Theatergeschichte in Berlin und Boston. Der gelernte Maschinist fuhr zwei Jahre zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er war Dramaturg am Berliner Ensemble und übersetzte und bearbeitete Shakespeare, Dostojewski und Robert Louis Stevenson. Teschke schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik.
Person Von Holger Teschke
Vita Holger Teschke, geboren 1958 auf Rügen, ist Autor und Regisseur in Berlin und lehrt Theatergeschichte in Berlin und Boston. Der gelernte Maschinist fuhr zwei Jahre zur See und studierte anschließend Schauspielregie in Berlin. Er war Dramaturg am Berliner Ensemble und übersetzte und bearbeitete Shakespeare, Dostojewski und Robert Louis Stevenson. Teschke schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik.
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