Abchasien ist unsterblich

Das Land galt als das Florida des Schwarzen Meeres – bis zum Krieg mit Georgien. Jetzt kommt das Leben langsam wieder aus der Deckung; die Menschen erobern ihre Strände zurück

Alle Toten ähneln einander, unabhängig von Alter und Rang, doch in Abchasien zeichnen sich die Verstorbenen durch etwas Besonderes aus.
Ich verlangte Details zu erfahren, doch ich bekam nur ausweichende Antworten. Der Tod in der „paradiesischen Laubhütte“, wie Abchasien genannt wird, im Schatten von Dattelpalmen, ist anscheinend voller heidnischer Wunder. Nicht zufällig kamen hier in der Morgenröte des Christentums drei Apostel zusammen, um die allzu lebhafte Natur zu zähmen: Andreas, Matthäus und Simon Kanaanäus, Bruder des Herrn im Fleische, Zeuge der Verwandlung von Wasser in Wein, der hier enthauptet wurde. Das gelb-rote, im 19. Jahrhundert im pompösen Kaufmannsstil erbaute Kloster von Nowy Afon, wo Simon womöglich bestattet wurde, schreit einen gleichsam an: „Sei still!“ Oder anders gesagt, es ist zu einer Festung des christlichen Verbots geworden. Aber die süße Luft! Der Blick aufs Meer! Ich kann nicht schlafen, Njanja! Nicht Schwarzes Meer, sondern schwüler Zwiespalt.

Als Skeptiker und Unwissender in lokalen Angelegenheiten kam ich in diese, wie ich dachte, „Bananenrepublik“ Abchasien, die sich unter dem Druck der Umstände Moskau zu Füßen geworfen hat. Mich beunruhigte die Frage der eigenen Sicherheit; mir schien, ich könnte zur leichten Beute abchasischer Abreken werden, die sich vermehrt haben wie Asseln nach dem Regen. Die Palette meiner Vorstellungen über dieses Land enthielt im Grunde nur irgendwelche Kleinigkeiten. Bis dahin hatte ich Abchasien zwei Mal besucht, das eigentliche Abchasien aber nicht entdeckt. Anfang der achtziger Jahre war ich in Otschamtschir, einer unansehnlichen, doch satten Stadt, wo ich an einem Wettbewerb unter dem Motto „Wer trinkt am meisten?“ teilnahm, den ich gewann, indem ich 32 große Wassergläser hausgemachten Weißweins trank. Das zweite Mal, im Spätherbst, wohnte ich im sonnigen Pizunda im „Haus des Schaffens der Schriftsteller“ – dort gab es weder Schriftsteller noch Schaffen noch Sonne.

Dieses Mal kam ich zur rechten Zeit. Die abchasische Geschichte beginnt gerade erst. Alles teilt sich in „vor dem Krieg“ und „danach“. Dies ist ein Land, in dem alle Kinder am Pfeifen einer Kugel das Kaliber bestimmen können. Die Georgier hatten den Krieg von 1992/93 gegen die selbst ausgerufene Republik verloren und das abchasische Selbstbewusstsein geweckt, das wie ein großes Rad aus dem Patriarchat in die Zivilgesellschaft, die Freiheit des Wortes und eine allgemeine Schreibwut hineinrollte. Davor gab es eine Vorgeschichte, in der jeder, der nichts Besseres zu tun hatte, aus Abchasien ein Nicht-Abchasien machen wollte. Je kleiner das Land, desto mehr liebt es sich selbst. Das Gebot des Überlebens.

Von allen Seiten redete man mir die Ohren voll über das sagenhafte Kolchis, das sich zu einem Teil im heutigen Abchasien befand, über das Goldene Vlies, die Argonauten und die Tochter des Königs von Kolchis, die Wunderheilerin Medea, zu deren Ehren die Medizin benannt wurde. Man stopfte mich voll mit Informationen darüber, wer alles in der Welt abchasischen Boden beanspruchte, den praktisch alle kolonisiert haben – von den Griechen, Römern, Byzantinern bis zu den Italienern und Türken, die hier im 16. bis 18. Jahrhundert den sunnitischen Islam etablierten und einen einträglichen Sklavenhandel aufzogen –, der jedoch letztlich von niemandem erobert wurde. Der abchasische Charakter und das alte abchasische Königreich waren stärker als alle, einschließlich des Russischen Reiches, das im 19. Jahrhundert Abchasien schluckte und die Abchasen für die darauf folgenden Aufstände, Konvulsionen, Meutereien offiziell als „schuldige Bevölkerung“ bezeichnete. Ich war bereits geneigt, Abchasien zum Zentrum der Welt zu erklären.

Sie meinen, ich irre mich? Augenzwinkernd und mit verschmitztem Gesichtsausdruck vertraute mir Stanislaw Lakoba, Historiker, Dichter und Sekretär des Sicherheitsrats Abchasiens, in einem Café in Suchumi den Schlüsselmythos an, den jeder Abchase über alles liebt. Als Gott den Völkern ihren Platz unter der Sonne zuteilte, so erzählte der gutmütige Mann mit einem Feuermal übers halbe Gesicht, vergaß Er aus irgendeinem Grund die Abchasen, die ja ein kleines Volk waren, und darum wies Er ihnen schließlich den Platz am Schwarzen Meer zu, wo Er eigentlich selbst hatte leben wollen. Schließlich begab sich Gott in den Himmel, um dort zu wohnen, ließ seinen Tross von Göttern und Meerjungfrauen zurück, und die Abchasen siedelten sich in seiner irdischen Residenz an.

Somit kann jeder, der nach Abchasien kommt, sich leicht von Geschmack und landschaftlichen Vorlieben des Schöpfers ein Bild machen. Weder Bescheidenheit noch Minimalismus. Im Gegenteil zügelloser, üppiger, subtropischer Rubens. Berge, Meer, Rosen, Eukalyptus, Schluchten, Täler, Mandarinen, Grotten, Seen, Forellen, Granatäpfel, Erdbeeren, Nachteulen, unvermeidliches Kroppzeug wie Fledermäuse mit weiten Flügeln und die braune Großohrfledermaus, außerdem Bären, Gämsen, kaukasische Maulwürfe.

Die triumphierende, überbordende Natur saugt auch den Menschen in sich auf: Hier wird er ebenso natürlich Teil der Natur, wie er in Sibirien zum Dissidenten mutiert. Die Verschmelzung mit der Natur ist für vernunftbegabte Wesen ebenso nützlich wie schädlich. Der Rhythmus der Natur lullt das Bewusstsein ein und entfesselt den Instinkt. Trägheit und Kampfeslust, Sinnlichkeit und Fleiß – all das vermischt sich im abchasischen Charakter, der offenkundig der besonderen Ausstrahlung der Natur erlegen ist. Die Abchasen fühlen sich im Heidentum wie der Fisch im Wasser.

Abchasiens Schönheit ist unglaublich malerisch. Würde man versuchen, sie in einem Bild einzufangen, wäre es das kitschige Abbild eines üppigen botanischen Gartens, der in einen nicht weniger üppigen Zoo verlegt wurde. Majakowski spürte das Kitschige des abchasischen Gartens Eden. „Überall Blumen und blau das Meer. Ins Auge drängen sich dir Magnolien, in die Nase steigen dir Glyzinien.“ Die anderen russischen Schriftsteller, die Abchasien besuchten, empfanden maßlose Begeisterung. Mandelstam entzückte die schwierige abchasische Aussprache, die zischenden und rasselnden Töne im Abchasischen, die sich, wie er schrieb, der „behaarten“ Kehle entringen. Ihn erregte, dass in Abchasien alle Substantive mit dem Laut A beginnen. Meine Frage, ob das A nicht ein alter Artikel sei, verneinten die Abchasen und fügten hinzu, die Wissenschaft sei bis heute nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. Auf die Frage, ob es wahr sei, dass die große kommunistische Losung „Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben!“ auf Abchasisch klinge wie „Lenin chara, Lenin chura, Lenin charachura!“, erklärten mir die Abchasen leicht beleidigt, das sei wieder mal so eine gemeine, verleumderische Erfindung der Georgier.

Da ist es schon wieder, das Thema Georgien, das seinen Schatten überallhin wirft. Die Georgier, mit denen die Abchasen als nahe kaukasische Nachbarn in Alltag und Tischsitten vieles gemeinsam haben, was sie nicht daran hindert, heute Todfeinde zu sein, erzählen dieselbe Legende vom Wohnort Gottes, allerdings über ihr eigenes Land. Das ist bereits Anlass für einen Konflikt. Stalin hat ihn einfach gelöst. 1936 schickte er seinen Freund Beria los, der seinen anderen Freund Nestor Lakoba, den schwerhörigen, beliebten kommunistischen Führer Abchasiens (einen Verwandten des heutigen Lakoba), vergiften sollte. In Tbilissi kredenzte Beria ihm zum Abendessen vergifteten Wein. Bald darauf begann im großen Stil die Georgifizierung Abchasiens, die mit der Deportation der Abchasen aus dem Kaukasus hätte enden sollen, doch Stalin kam nicht mehr dazu – er starb. Aber er schaffte es noch, sich 1947 in den abchasischen Bergen am Rizasee eine Datscha zu bauen.

Im Wasser spiegelten sich die schneebedeckten Gipfel des Kaukasus. Stalin blickte lange in die Ferne. Er war kein Jäger, er war ein Betrachter. Worüber dachte er nach, hier in der Abgeschiedenheit Abchasiens? Wahrscheinlich betrauerte er seinen Freund Nestor Lakoba, dessen Familie – Brüder, Frau, Kinder, Mutter – man ausgelöscht hatte, nicht ohne sie vorher gefoltert zu haben. Während ich auf der Stalin-Datscha in die Klosettschüssel des Diktators pinkelte, wunderte ich mich über die zwergenhaften Maße seiner Badewanne. Von allen Geschichten über Nestor, die mir Stanislaw erzählte, ist mir besonders die Kombination von Marxismus und Heidentum in Erinnerung geblieben, worüber auch Mandelstam schrieb. Als Nestor 1917 seine erste revolutionäre Truppe aufstellte, führte er seine Kämpfer zu einem in Abchasien hoch verehrten heidnischen Heiligtum auf den Berg Dydrypsch („Reich des Donners“). Hier leisteten sie ihren Treueschwur im Kampf für die Macht des Volkes.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 58. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 58

No. 58Oktober / November 2006

Von Viktor Jerofejew und Jonas Bendiksen

Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Im marebuchverlag erschien letztes Jahr von ihm die Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf.

Jonas Bendiksen, 1977 in Norwegen geboren, zog als 20-Jähriger nach Moskau, wo er mehrere Jahre lebte. Der Träger des World Press Photo Award ist Mitglied der Agentur Magnum. In Kürze erscheint sein Band Satellites: Photographs from the Fringes of the Former Soviet Union, Bilder von den Rändern der alten Sowjetunion, die er „die grauen Regionen“ nennt.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.

Mehr Informationen
Vita Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Im marebuchverlag erschien letztes Jahr von ihm die Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf.

Jonas Bendiksen, 1977 in Norwegen geboren, zog als 20-Jähriger nach Moskau, wo er mehrere Jahre lebte. Der Träger des World Press Photo Award ist Mitglied der Agentur Magnum. In Kürze erscheint sein Band Satellites: Photographs from the Fringes of the Former Soviet Union, Bilder von den Rändern der alten Sowjetunion, die er „die grauen Regionen“ nennt.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.
Person Von Viktor Jerofejew und Jonas Bendiksen
Vita Viktor Jerofejew wurde 1947 in eine Moskauer Diplomatenfamilie geboren. Er gilt als einer der führenden Autoren Russlands. Im marebuchverlag erschien letztes Jahr von ihm die Reisereportagesammlung Der Mond ist kein Kochtopf.

Jonas Bendiksen, 1977 in Norwegen geboren, zog als 20-Jähriger nach Moskau, wo er mehrere Jahre lebte. Der Träger des World Press Photo Award ist Mitglied der Agentur Magnum. In Kürze erscheint sein Band Satellites: Photographs from the Fringes of the Former Soviet Union, Bilder von den Rändern der alten Sowjetunion, die er „die grauen Regionen“ nennt.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.
Person Von Viktor Jerofejew und Jonas Bendiksen