33 000 Freunde. Und noch mehr Feinde

Die Ukraine setzt im Kampf gegen Korruption auf junge, unbelastete Staatsbedienstete. Ihr Aushängeschild ist eine Literaturstudentin, die dem Zollbetrug in Odessas Hafen Grenzen setzen soll

Alles fing mit einem You-­ Tube-Video an, das sie im Februar 2014 von sich drehen ließ, auf dem Majdan, dem zentralen Platz in Kiew. Sie war eine von 400 000 Menschen, die den Rücktritt des Präsidenten Wiktor Janukowytsch forderten, und eine der zigtausend Studenten und Aktivisten, die die Kraft der sozialen Medien in die Proteste einbringen wollten. 20 Grad minus, es war so kalt, dass sie nur zwei Takes auf Englisch machen konnte, ihr Akzent sei schrecklich gewesen, sie habe nicht die richtige Betonung und die richtigen Worte gefunden. Aber sie versuchte es. „Wir wollen frei sein von Politikern, die nur für sich selbst arbeiten“, sagte sie der Kamera. „Hier ist nicht die Sowjetunion!“

Das Video wurde neun Millionen Mal geklickt und Julia Maruschewska, damals 24, zum Internetstar. Die Revolution hatte mit ihr ein Gesicht.

Seitdem ist viel passiert. Janukowytsch verschwand, Petro Poroschenko kam an die Macht. Er holte seinen Studienfreund Micheil Saakaschwili, der Georgien verlassen musste, nachdem er als Präsident sein Land nicht nur von Korruption befreit hatte, sondern am Ende wegen Amtsmissbrauchs per Haftbefehl gesucht wurde. Poroschenko brauchte für sein Projekt Ausländer.

Sein Plan: der Umbau des laut Transparency International korruptesten Landes in Europa. Aber nicht von innen heraus, dazu war das System zu kaputt, sondern von außen. Mit unbelasteten, ausländi- schen Reformkräften. Und so importier­te Poroschenko diverse Politiker aus aller Welt, bürgerte sie ein und ernannte: eine Finanzministerin, eben noch Amerikanerin, einen Wirtschaftsminister, eben noch Litauer. Und nun einen geschassten Präsidenten aus Georgien. Ihn konnte er nicht gleich zum Ministerpräsidenten machen, dazu waren die Bedenken der EU, der Amerikaner und anderer für die Ukraine wichtiger Institutionen wie IWF und Weltbank zu groß.

Er machte ihn im Mai 2015 zum Gouverneur der Region Odessa, mit der Schwarzmeermetropole im Zentrum. Zum Chef eines Pilotprojekts. Ein Härtetest. Wenn es ihm hier gelänge, die Korruption zu tilgen, dann wäre es auch in der ganzen Ukraine möglich. Und wenn es in der Ukraine möglich ist, dann gibt es Hoffnung für den postsowjetischen Raum. Der Oblast Odessa ist von der Fläche und der Einwohnerzahl her halb so groß wie Georgien. Mach’s noch einmal, Mischa. Im Oktober 2015 fragte er Julia Maruschewska, eben noch Studentin an der Universität Kiew, ob sie sich seinem Reformteam an- schließen wolle. Sie wollte.

Odessa ist der größte Hafen am Schwarzen Meer. 5000 Angestellte, 100 000 Einkommensempfänger. 1400 private und staatliche Firmen. Jährlich 25 Millionen Tonnen Trockencargo und 25 Millionen Flüssigcargo. Die Möglichkeiten zu bestechen: ungezählt.

Wenn die Ukraine das Land der Korruption ist, dann ist Odessas Hafen der Sumpf und der Zoll dessen Grund. 1400 Zöllner. Als einige von ihnen, vor TV-Kameras von Saakaschwili nach ihrem Monatslohn befragt, ihm die 50 Euro nicht nennen konnten, kommentierte er hämisch, an die Zuschauer gewandt: „Weil sie sie in Anbetracht der Schmiergelder, die sie kassieren, vergessen haben.“ Hunderte Millionen Dollar jeden Monat, die am Zoll vorbeigeschleust wurden.

Dorthin, an die Spitze der Zollbehörde, hat er Julia Maruschew­ska gesetzt. Eine Literaturwissenschaftlerin, 26 Jahre alt, Thema ihrer Dissertation: „Die versteckten Identitäten ukrainischer Schriftsteller unter sowjetischer Besatzung im 20. Jahrhundert“. Die Politik vor allem aus der Belletristik kennt. Und die auf Saakaschwilis Angebot mit Romantik reagierte: „Odessa? Wunderbar. Hier haben sich meine Eltern kennengelernt.“ Die eine „moderate, sehr hübsche und talentierte Frau ist, zwar keine Kenntnisse vom Zoll, aber ausgezeichnete organisatorische Fähigkeiten hat“, wie Poroschenko bei ihrer Vereidigung feststellte.

Mittwoch. Hafenstadt Tschornomorsk, 20 Kilometer südlich von Odessa. Außenposten ihrer Zollbehörde. Ein Überraschungs­besuch. Sie fährt in einem blauen Skoda Octavia vor, steigt aber erst aus, nachdem sie in Ruhe ihr Porridge von McDonald’s auf der Rückbank gegessen hat. Als Erstes lässt sie ihre Beine mit den hochhackigen, beige-schwarzen Schuhen aus dem Wagen wippen, dann räkelt sich der Rest ihrer schwarz-beigen Komposition hinaus. Sie fährt sich durch ihre offenen Haare, und die Männer staunen wie in einer Werbung für Haarspray. Früher, wenn der Zollchef angemeldet aufkreuzte, war die Zweigstelle schon geschlossen, die Vorhänge zuge­zogen, Wodka und Kaviar aufgetischt. Und jetzt kommt eine Frau auf sie zugeschritten, die nach alter Gewohnheit maximal Sekretärin geworden wäre und die nun von ihnen Ergebnisse sehen möchte, wie jeder Chef. Die Vertraulichkeit des Vor­namens Julia nehmen sie sich heraus, ansonsten sind sie eilfertig zur Stelle: Doch, Julia. Schon erledigt, Julia. Fast fertig, ­Julia. Beide Seiten haben sich erstaunlich schnell in die Hierarchie eingefunden.

Sie bewegt sich selbstverständlich durch diese Welt, stellt Fragen, blickt direkt in die Augen, lächelt, hat aber dennoch einen bestimmenden Zug um den Mund, den sie auf dem Majdan-Video noch nicht hatte. Sie hat eine sanfte Ungeduld, die sich in immer kürzer werdenden Abständen beim Nicken äußert. Sie redet schnell, geht schnell, achtet darauf, dass sie als Erste durch Türen tritt, schließlich ist sie die Chefin. Aber das Mädchen kommt lachend zum Vorschein, wenn die Zöllner fadenscheinige Gründe finden, warum das Computersystem, das sie angeordnet hat und durch Transparenz Mauscheleien verhindern soll, doch noch nicht läuft, was sie auf Facebook so kommentiert, dass die „alten Kräfte hier wieder gegen sie arbeiten“.

Nach dem Zoll geht es in den Hafen. Die Terminalbesitzer warten in einem Range Rover. Vom Auto aus haben sie ihre Mitarbeiter telefonisch angehalten, alles für die gleich folgende „Überraschungs­visite“ vorzubereiten: Zeigt ihr dies, aber nicht das. Macht die Toiletten sauber, den Fernseher an, diese Tür zu. Potemkinsche Dörfer werden für sie aufgestellt – vielleicht das größte Kompliment, das man ihr machen kann: dass man sie ernst nimmt.

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mare No. 118

No. 118Oktober / November 2016

Von Dimitri Ladischensky und Misha Friedman

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, und Misha Friedman, Jahrgang 1977, freier Fotograf in New York, verbrachten eine Woche in Odessa – für beide eine der schönsten Hafenstädte weltweit.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, und Misha Friedman, Jahrgang 1977, freier Fotograf in New York, verbrachten eine Woche in Odessa – für beide eine der schönsten Hafenstädte weltweit.
Person Von Dimitri Ladischensky und Misha Friedman
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, und Misha Friedman, Jahrgang 1977, freier Fotograf in New York, verbrachten eine Woche in Odessa – für beide eine der schönsten Hafenstädte weltweit.
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