25°04' Süd, 130°06' West - Folge 44

Hin und wieder kommt es vor, dass zufällig ankommende Schiffe Leben auf der Insel retten. Sei es, dass jemand wegen einer nötigen Blinddarmoperation evakuiert werden muss oder Ärzte eines Kreuzfahrers einen Todkranken zur Genesung bringen. Diesmal war es umgekehrt. Als der Frachter „Eagle Bay“ auf dem Weg von Neuseeland zum Panamakanal vor der Küste ankerte, war es allerhöchste Zeit für den Schiffsingenieur. Er hatte seit der Abreise eine Woche zuvor keinen Bissen mehr heruntergebracht und nur noch Blut gespuckt. Lyle Burgoyne, gerade als Krankenpfleger auf der Insel, ließ ihn an Land zu der kleinen Station bringen, päppelte ihn vorübergehend mit Spritzen, musste aber dann doch den Dampfer Kurs Nordwest umleiten, Richtung Mangareva. Nach zweitägiger Fahrt konnte der Patient von dort nach Tahiti in ein Krankenhaus ausgeflogen werden. Letzte Nachricht: Es geht ihm wieder besser.

Die Ankunft des Schiffes war aber auch Anlass zur Freude. Timmy Young (24) und Jason Warren (17) waren nach längerem Aufenthalt aus Neuseeland auf ihre Heimatinsel zurückgekehrt, um dort zu leben. Junge Menschen, die sich auf Pitcairn niederlassen, sind lebenswichtig für die kleine Gemeinde. Und: Auf dem Frachter konnte endlich wieder Post abgeschickt werden, das erste Mal seit einem halben Jahr.

Gut allerdings, dass die beiden Heimkehrer nicht mehr die Inselschule besuchen müssen, denn da würde ihnen gleich der allgegenwärtige Mangel an diesem so abgelegenen Ort aufgefallen: In der Schule ist nämlich das Toilettenpapier ausgegangen. Vor Ankunft des nächsten Versorgungsschiff wird es keinen Nachschub mehr geben. „Ein ernsthaftes Problem“, kommentiert „Pitcairn Miscellany“, die Inselzeitung.

Wenn auch mit vorübergehenden Engpässen im Sanitärbereich, so bringt doch der ganz besondere Standort dieser Lehrstätte, hinter dem Dorf oben auf der Klippe, andere Vorteile: Die Buckelwale sind wieder da, seit einigen Wochen. Es gibt nicht viele Schulbänke auf der Welt, von denen aus unmittelbar zu Füßen zu beobachten ist, wie diese Riesen aus dem Wasser schießen, sich mit dem Rücken flach auf den Ozean klatschen lassen und immense Wellen schlagen. Die Kinder versuchen nun, mit Ferngläsern herauszufinden, ob es die ganze Zeit dieselben Tiere sind, die sich vor Pitcairn vielleicht schon heimisch fühlen, oder täglich andere, die vor der Meutererinsel nur einen kurzen Stopp einlegen auf ihrem langen Weg von Süd nach Nord.

Apropos Sanitärbereich: Eine neue Bestandsaufnahme hat ergeben, dass auf der Insel mittlerweile sieben Häuser mit WC’s ausgestattet sind. Die Tage der Plumpsklos sind offenbar gezählt. Größere und mehr Wassertanks machen das möglich, was der gehobene Komfortanspruch unter den Insulanern – ausgelöst von den unzähligen „Übersee“-Reisen – seit langem forderte. Irma und Denis waren die vorläufig Letzten, die umgestellt haben.

Immer wieder wirft der Prozess um angebliche oder tatsächliche sexuelle Nötigung Minderjähriger seine Schatten auf die Inselgesellschaft. Der neueste Aufreger: eine Verfügung aus dem Büro des Gouverneurs in Neuseeland (das Mutterland Großbritannien verwaltet seine Kolonie der Einfachheit halber aus dem Commonwealth-Partnerland). Danach können die Behörden ohne Gerichtsurteil Kinder ihren Eltern entziehen und nach Neuseeland holen. Nicht dass die Pitcairner eine solche Regelung unmöglich finden. Allerdings sind sie der Meinung, dass der Inselrat bei solchen Erlassen zuvor angehört werden muss. Das Vertrauensverhältnis zwischen London und Pitcairn ist seit Beginn des Prozesses vor drei Jahren zerstört.

mare No. 44

No. 44Juni / Juli 2004

Von Ulli Kulke

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

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Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.
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