25°04' Süd, 130°06' West - Folge 42

Pitcairn, zur Zeit der Besiedlung durch die Meuterer unbewohnt, offenbart unter seiner Erdoberfläche immer mehr von seiner altpolynesischen Bedeutung vor etwa 1000 Jahren. Der Steinbruch bei Tautama - hinter dem Sportplatz, wo heute jeder Pitcairn-Besuch im Cricketspiel abgeledert wird - ist legendär für seine Fundstücke aus ozeanischer Steinzeit: Messer, Hacken, Fischhaken und anderes mehr, aus Basalt und Obsidian gefertigt. Doch besonders Mason und David suchen seit einiger Zeit systematisch und erfolgreich auf der ganzen Insel. Schon „einiges mehr als einen Korb voll" fanden sie. Insbesondere nach starken Regen, wenn ganz Pitcairn über die verschlammten Wege stöhnt, freuen sich die beiden, denn dann hat das Wasser wieder viele Stücke freigelegt. Inzwischen rätseln die Insulaner, warum ausgerechnet ihre Insel so viele vorgeschichtliche Werkzeuge birgt: War sie einst ein Handelszentrum für die ostpolynesischen Seefahrer? Hatte man Waffenverstecke für drohende Bürgerkriege angelegt? Lehrer Allen Cox jedenfalls freut sich: „Nirgendwo sonst ist die Gartenarbeit so aufregend!"

Den drei britischen Polizisten, die zurzeit auf der Insel nach dem Rechten sehen, Kettenraucher allesamt, sind die Zigaretten ausgegangen. Da keiner der Einwohner ihre Sucht teilt, können sie nirgends schnorren. Berichten zufolge zeigen sie ansteigende Symptome von Nervosität. Ein Augenzeuge will sie schon auf einer Kokospalme gesehen haben, eine Fahne zur Hand, um eventuell vorbeikommende Schiffe herbeizuwinken.

Die Richter, Staats- und Rechtsanwälte aus Neuseeland, die auf der Insel Ermittlungen wegen sexueller Belästigung Minderjähriger führten (siehe vergangene Folgen), wollten auf der Rückfahrt endlich selbst einmal das ausprobieren, was sie auf der Insel zuvor nur neidvoll beobachten konnten: auf großen Fischzug gehen. Sie stoppten vor der unbewohnten, zu Pitcairn gehörenden Insel Oeno, 120 Kilometer nordwestlich, und angelten einen großen Tun, einen Barracuda und einen Gelbschwanz. Immerhin.

Der Prozess rüttelt immer mehr an den Grundfesten der Inselgesellschaft. Rechtsanwalt Paul Dacre, Vertreter von sieben der Pitcairner Angeklagten, stellt jetzt die Zuständigkeit der britischen und der um Amtshilfe gebetenen neuseeländischen Richter mit bemerkenswerter Begründung in Frage: Pitcairn sei entgegen aller Praxis der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte niemals britische Kolonie gewesen. Die Meuterei und erst recht das Abbrennen der „Bounty" hinterher - um alle Verbindungen zu kappen - bewiesen die Gründung einer selbstständigen Nation Pitcairn. In der Tat gab es nie ein Vertragswerk, das den britischen Kolonialstatus begründete. Die Verfassung von 1838, auf dem zufällig vorbeisegelnden Walfangschiff HMS „Fly" unterzeichnet und mit Unterstützung seines Kapitäns zuvor formuliert, enthält viele Paragraphen. Die meisten davon regeln den damals konfliktreichen Umgang mit Hunden, Katzen und Ziegen. Von britischer Herrschaft handelt keiner. Und so ist für ihn auch der Pitcairn Supreme Court, der im letzten Jahr eigens für den Prozess in Neuseeland errichtet wurde, ebenfalls nichtig. Der Staatsanwalt hielt dagegen: „Pitcairn war und bleibt britische Kolonie." Die Pitcairner stützen durch ihr einst erfolgreiches Bemühen um britische Pässe zwar ungewollt die Position des Staatsanwalts, der Prozess erzürnt jedoch Männer, Frauen und Kinder derart, dass sie derzeit die Unabhängigkeit begrüßen würden. Pitcairn-Gouverneur Fell mit Amtssitz Neuseeland, derzeit Persona non grata auf der Insel, musste sich daher für seinen kürzlichen Besuch ein Mitbringsel einfallen lassen. Es kamen zwei Ingenieure mit, die die Möglichkeiten einer Landepiste prüfen sollten. Mal wieder.

mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Ulli Kulke

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

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