108 Tage

Libysche Milizen nahmen sizilianische Fischer gefangen, die in internationalen Gewässern vor Libyen legal Garnelen fingen. Ihre Familien zu Hause bangten monatelang um die Männer

In die Stille peitscht ein Schuss. Es ist der 1. September 2020 gegen 20 Uhr, als binnen Sekunden weitere Schüsse aus Maschinengewehren knallen. Eben hat Michele Trinca, 64 Jahre alt, 45 davon Seemann, auf Befehl der libyschen Küstenwache sein Fischerboot „Antartide“ verlassen. Nun sitzt er in einem Schlauchboot und versteht kein Wort, sieht in finstere Gesichter, in den Händen hält er die Schiffspapiere. Seit zwei Wochen ist der Kapitän mit seiner sechsköpfigen Besatzung auf hoher See, 480 Seemeilen vom Heimathafen Mazara del Vallo, Sizilien, entfernt und 35 von Bengasi, Libyen.

Zweieinhalb Stunden später erhält Naoires Ben Haddada, 22, die älteste von drei Töchtern, einen Anruf ihres Vaters Mohamed. 18 Fischer seien entführt und zwei Boote beschlagnahmt worden, darunter die „Medinea“, auf der er als Motorfachmann arbeitet. Seit Naoires’ Geburt ist Mohamed Seemann. Mit 18 Jahren kam er von Tunesien nach Sizilien. Naoires bleibt trotz der Nachricht ruhig, schließlich ist ihr Vater schon zweimal von den Libyern gefangen genommen und binnen 48 Stunden nach Begleichung einer Strafe freigelassen worden. So wird es auch dieses Mal sein, inschallah. Die beiden verabschieden sich. Es werden Monate vergehen, ehe Naoires erneut mit ihrem Vater spricht. Und noch ein wenig länger, ehe sie ihn wieder in den Armen hält.

Die Fischer sind wie die Besatzungen weiterer sechs Boote, die im letzten Moment fliehen konnten, in dem 50 000 Einwohner zählenden Mazara del Vallo zu Hause. Mit seinen engen Gassen erinnert der Ort an eine arabische Stadt. Die afrikanische Küste liegt näher als die Hauptstadt Rom. Unter den Entführten befinden sich acht Italiener, zwei Senegalesen, zwei Indonesier. Und sechs Tunesier, die mit Abstand größte Ausländergruppe in Mazara. Viele leben seit den 1970er-Jahren hier und arbeiten wie Mohamed Ben Haddada in der Fischerei.

Mazara verfügt über den größten Fischereihafen Italiens, mit jährlich rund 30 000 Tonnen Fang. Aber dennoch sind die goldenen Zeiten lange vorbei. Weil vor Sizilien immer weniger Fische zu finden sind, fahren die rund 40 Boote immer weiter hinaus ins Mittelmeer. Und in erster Linie einer Spezies hinterher, die sie hier in den 1990er-Jahren entdeckten: dem gambero rosso, der Roten Garnele. Es gibt sie auch vor Sardinien oder Griechenland, aber nirgendwo sind die Vorkommen so groß wie in den internationalen Gewässern vor Libyen.

Nur die Fischer aus Mazara wagen sich in dieses Gebiet. Von Anfang April bis Ende September holen sie die Rote Garnele aus den schlammigen Tiefen des Meeresbodens. Sie gilt als Delikatesse, steht in ausgewählten Restaurants der Welt auf der Speisekarte, ein Kilogramm erster Qualität kostet etwa 50 Euro. Da die Fischer statt eines fixen Gehalts am Gewinn beteiligt sind, ist es auch für sie lohnend. Und gefährlich. Denn statt der international festgelegten zwölf Seemeilen erklärte das ehemalige libysche Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi 2005 ganze 72 Seemeilen ab der Küste zu libyschem Gebiet. Kein Land hat dies je anerkannt.

Am Morgen des 2. September finden sich Kapitän Trinca und seine Kollegen im Hafen von Bengasi wieder. Sie sehen den libyschen Männern dabei zu, wie sie ihr Fischerboot ausrauben, samt der tiefgefrorenen Garnelen. Sie müssen ihren Schmuck abgeben, Trinca eine silberne Armbanduhr, eine Goldkette, seinen Ehering und den des 25-jährigen Hochzeitsjubiläums mit seiner Frau Paula.

Die Wachen schreien den Männern ins Gesicht, schießen in die Luft, bringen sie in ein Gefängnis, wo man ihnen die Haare schert und die Mobiltelefone abnimmt. Die Fischer sind nun Gefangene des Generals Chalifa Belqasim Haftar, der den Osten des Lands um Bengasi kontrolliert und mit der Regierung in Tripolis rivalisiert.

Als von den Vermissten nach zwei Tagen keine Nachricht eingetroffen ist, beruft der Bürgermeister von Mazara del Vallo ein Treffen mit den Angehörigen und den Schiffseignern ein, alle sind ratlos.

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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Barbara Bachmann und Roselena Ramistella

Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin in Südtirol, stellte in Mazara fest, wie unterschiedlich die Häuser der Seeleute sind: die der tunesischen Fischer einfach mit großer Dachterrasse, die der Kapitäne prunkvoll. Gemein ist allen: Ihre Frauen verbringen die meiste Zeit allein.

Roselena Ramistella, Jahrgang 1983, freie Fotografin in Palermo, verbrachte viel Zeit mit den Familien der entführten Fischer. So war sie auch dabei, als Mohamed Ben Haddadas Töchter zum ersten Mal mit ihrem Vater nach dessen Freilassung telefonierten.

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Vita Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin in Südtirol, stellte in Mazara fest, wie unterschiedlich die Häuser der Seeleute sind: die der tunesischen Fischer einfach mit großer Dachterrasse, die der Kapitäne prunkvoll. Gemein ist allen: Ihre Frauen verbringen die meiste Zeit allein.

Roselena Ramistella, Jahrgang 1983, freie Fotografin in Palermo, verbrachte viel Zeit mit den Familien der entführten Fischer. So war sie auch dabei, als Mohamed Ben Haddadas Töchter zum ersten Mal mit ihrem Vater nach dessen Freilassung telefonierten.
Person Von Barbara Bachmann und Roselena Ramistella
Vita Barbara Bachmann, Jahrgang 1985, freie Reporterin in Südtirol, stellte in Mazara fest, wie unterschiedlich die Häuser der Seeleute sind: die der tunesischen Fischer einfach mit großer Dachterrasse, die der Kapitäne prunkvoll. Gemein ist allen: Ihre Frauen verbringen die meiste Zeit allein.

Roselena Ramistella, Jahrgang 1983, freie Fotografin in Palermo, verbrachte viel Zeit mit den Familien der entführten Fischer. So war sie auch dabei, als Mohamed Ben Haddadas Töchter zum ersten Mal mit ihrem Vater nach dessen Freilassung telefonierten.
Person Von Barbara Bachmann und Roselena Ramistella