Wohnen auf der Ostsee

Unter den Millionen Passagieren der Skandinavienfähren sind manche, die gar nicht mehr von Bord gehen

Ein 28-jähriger Mann, der im Verdacht steht, drei Brände an Bord der Viking-Line-Fähren zwischen Schweden und Finnland gelegt zu haben, wurde in Helsinki verhaftet ...
... Brand auf der MS „Mariella“ hätte sich leicht über das ganze Schiff ausbreiten können. Der Mann hatte einen Schrank mit Feuerlöschgeräten angesteckt ...
... hat keinen festen Wohnsitz und dürfte schon seit längerem an Bord der Fähren gelebt haben ...
– Aus der finnischen Tageszeitung „Huvudstadsbladet“ vom 28. November 2001

Noch zittern mir die Hände. Sie haben es mir nicht leicht gemacht. Zur Abschreckung zwei Polizisten und zwei Mann Security, lässig an die Schiebetüren zum Landungssteg gelehnt. Dort, wo man durchmuss. Doch heute wollen genug Passagiere nach Stockholm. Vor allem ältere Leute unter Hüten und in dicken Daunenjacken, die gehen langsam und sind unverdächtig, der ganze Wartesaal am Hafenterminal von Turku ist voll. Schlag 8.30 Uhr formiert sich die lose Menge blitzschnell zu einem schwankenden Wulst, ich mische mich in dessen Mitte, will untergehen. Ein Ticket – jeder hat eines, und jeder hält auch diesen großen Coupon in Händen, den man beim Ticketkauf bekommt, für einen „Eisbär“-Cocktail mit viel Wodka und Sprite, Bordpreis nur 3,50 Euro. In einer Topfpflanze in der Ankunftshalle steckt ein solcher Gutschein, den knittere ich jetzt in meiner Rechten, verberge ein Ticket, das ich gar nicht habe. Ein Taschenspielertrick. Zu simpel?

Unstet hasten die Augen des pomadigen Maats links vom Eingang über die bunten Zettel in den Händen betagter Damen. Rechts sucht ein älterer, massiger Wächter geschulten Blickes die Menge ab. Sie beide sehen über mich hinweg. Der ganze Saal soll zwischen 8.32 Uhr und 8.45 Uhr auf die Fähre gelangen. Muss. Zehn Minuten für 1000 Reisende, das sind fünf Zehntelsekunden für die Kontrolle eines Einzigen. Nicht genug, meine Finte zu durchschauen. Als blinder Passagier komme ich an Bord, gehüllt in einen Menschenmantel, und ich kann ewig bleiben. Aber mir zittern die Hände.

16 Millionen Menschen fahren jedes Jahr im Dreieck Finnland–Schweden–Estland zur See. Das entspricht einer Seereise jährlich für jeden einzelnen Esten, Finnen und Schweden. 4,2 Millionen Passagiere zählte man allein im Hafen von Turku, das entspricht 11500 Reisenden je Tag.

3123 davon finden auf der „Silja Europa“ Platz, der größten Passagier- und Autofähre in der Ostsee, die täglich zwischen Turku und Stockholm verkehrt. Sie ist mit 201,6 Meter Länge etwa doppelt so lang wie ein Fußballfeld und annähernd so ausladend. Im Supermarkt an Bord kostet eine schöne, große Flasche Wodka nur 21,55 Euro, das sind acht Euro weniger als auf dem finnischen Festland. „Tax-free“ heißt das magische Lockwort, „steuerfrei“. Was immer die Menschen an Bord auch tun, sie zahlen dafür keine Steuern. Deshalb sind es so viele.

Am Vordeck unter mir arbeiten die Winden. Ein Matrose reißt sich seine Kappe vom Kopf, schleudert sie im Laufen zu Boden, hievt ein weiteres Tau über die Trommel. Das Schiff legt ab, richtet den Bug zwischen die Inseln. Die Menschenwelle hat mich hierher geschwemmt, in die Cafeteria über dem Vordeck, hat mich angespült in diesen lachsroten Kunstledersessel, hinter eine Tasse Kaffee, unter gegengleich pulsierende Lichterketten, rot und blau und rot. So muss er an Bord kommen, ein blinder Passagier, rasten, dann nach einem Unterschlupf suchen.

Später gehe ich lautlos über roten, feuerfesten Plüsch nach draußen. Dem kahlköpfigen Koloss von Mann an meinem Tisch nicke ich noch zu, er hebt sein erstes großes Glas Gin Tonic. Cognac mit Wasser, ein Glas Wein trinken die Damen am Nebentisch, Lehrerinnen in Strickpullovern, Perlenketten. Sie klimpern mit ihrem Finnisch, ich höre: „Ja sitten mitä tapahtui?“ – „Und was passierte dann?“

Am Gang steht betreten ein Mann im Katzenkostüm mit schmutzigen Ohren, wartet vor der Zeit auf Passagierskinder. Ich streiche an ihm vorbei, durch eine finstere und schmale Schlucht aus Spielautomaten und grotesken grünen Parkbänken zur Treppe, hinunter, tief und tiefer. Schon auf Deck vier keine lebende Seele mehr, in einem schiffslangen Gang. Altrosa Kabinentüren rechts und links, wie ins Unendliche gespiegelt, hässlich und fest verschlossen. Am Aluminiumgeländer, von Sicherheitskameras beäugt, hinab auf Deck drei, wo Autos parken, eine hydraulische Tür zischend aufschwingt. Um Winkel und Ecken drücke ich mich, hier wird man nicht gefunden, es sucht ja keiner. Deck zwei. Die billigsten Kabinen, ein fensterloses Labyrinth unter der Wasserlinie, es ist hier kühler als oben.

Hier unten, in den Gedärmen der Schiffe, hat er Feuer gelegt, der Pyromane, der auf den Fähren lebte, und hier unten steht wahrhaftig eine Kabinentür offen. Das Licht brennt, das Bett unberührt, frische Laken, darunter kein Gepäck, keine Schuhe, und das zwei Stunden nach dem Ablegen. 1184 Kabinen, nur diese leer und unverschlossen, ich trete ein und verriegele die Tür.

Uffe sucht nach Menschen, die auf der Ostsee wohnen. Die, einmal auf den Fähren, nicht mehr von Bord gehen, sondern bleiben: als blinde Passagiere, Tage, womöglich eine Woche lang. Die aufgehen im Meer von Tag für Tag neuen, ewig gleichen Gesichtern, FinnenSchwedenFinnen. Bis er einen Kopf wiedererkennt.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 32. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 32

No. 32Juni / Juli 2002

Von Thomas Brunnsteiner

Thomas Brunnsteiner, geboren 1974 im österreichischen Graz, ließ sich nach Auslandsstationen in Rom und Moskau als freier Journalist in Lappland nieder. Bei seinen Recherchen zur Zweckentfremdung der Fährschiffe als Getränkegrosso stieß er auf die Geschichte der Dauerreisenden.

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Vita Thomas Brunnsteiner, geboren 1974 im österreichischen Graz, ließ sich nach Auslandsstationen in Rom und Moskau als freier Journalist in Lappland nieder. Bei seinen Recherchen zur Zweckentfremdung der Fährschiffe als Getränkegrosso stieß er auf die Geschichte der Dauerreisenden.
Person Von Thomas Brunnsteiner
Vita Thomas Brunnsteiner, geboren 1974 im österreichischen Graz, ließ sich nach Auslandsstationen in Rom und Moskau als freier Journalist in Lappland nieder. Bei seinen Recherchen zur Zweckentfremdung der Fährschiffe als Getränkegrosso stieß er auf die Geschichte der Dauerreisenden.
Person Von Thomas Brunnsteiner