Wir sind hier auf einer Hallig

Je kleiner die Insel, desto besser der Überblick. Wir entwirren das Beziehungsgeflecht der Insulaner von Hooge

Das Wasser kommt, als der Mond schon scheint. Hinter der Warft: ein tosendes, tobendes, grimmiges Meer, das über den Sommerdeich steigt, zwischen Pfählen hindurchschießt und sich mit jedem Angriff ein neues Stück Rasen nimmt. Vor der Warft: ein stetiges Anschwellen, Schwappen und Lecken, Wasser, das sich ausbreitet über Wiesen und Straßen, das alles überspült bis auf das Brückengeländer und ein paar Büschel Schilfgras, das die Einfahrt des Hauses emporkriecht, höher und höher. Dort, wo vor Stunden noch Land war, ist jetzt Nordsee. Die Warften werden zu Inseln. „Land unter“ auf Hallig Hooge.

Das Leben auf der Hallig ist ein Leben mit Extremen. Jeder Hooger hat seine Geschichte zu erzählen. Wie bei der schweren Sturmflut 1962 das Wasser die Haustür aufbrach und die Truhe und der Hund plötzlich im Flur schwammen. Wie man sich mit drei Kindern und einem Kalb auf den Heuboden rettete, wie Mauern einstürzten und alle Schafe ertranken. Wie die Fethinge, die Süßwasserteiche, vom Meer versalzen wurden und wie das Vieh brüllte vor Durst.

Doch es gibt auch andere Geschichten. Geschichten von extremen sozialen Bedingungen, von den Mechanismen und Gesetzen einer Kleinstgemeinschaft. Hallig Hooge heißt: neun bewohnte Warften, also neun aufgeworfene Erdhügel zum Schutz vor dem Wasser, 114 Menschen, die immer hier wohnen, mitten im Nordfriesischen Wattenmeer. Heißt:

Im Gemeinderat berät sich der Bürgermeister mit seiner Schwiegertochter und der stellvertretende Bürgermeister mit seiner Stieftochter. Die Frau des Postboten macht nebenbei die Bank, am eigenen Küchentisch. Zwei Lehrer unterrichten zehn Schüler. Die Kindergärtnerin hat nur zwei Kinder zu betreuen: ihre Tochter und ihre Nichte. Keinen Arzt gibt es, keine Apotheke, nur einen Krankenpfleger. Der Supermarkt ist der kleinste in Deutschland. Und auf dem Briefkasten steht, was für die nächste Leerung wie für alles auf der Hallig gilt: „tideabhängig“.

Die Hallig ist ein System. Sie ist ein Netzwerk von Menschen, die das System reproduzieren und symbolisieren, von Menschen, die langsam Teil des Systems werden, und von Menschen, die sich am System reiben. Wie aber funktioniert das System?

gucken

Für Geheimnisse ist das Land zu flach, die Warft zu eng, die Hallig zu klein – und das Fernrohr zu gut. Ferngläser sind beliebt, zum Vögelbeobachten oder Ins-Watt-Hinausschauen. Oder um zu sehen, wer mit wem am Deich spazieren geht. In der Weite, wo ein einziger langer, gerader Strich Himmel von Erde und Wasser von Himmel trennt, lebt der Mensch ohne Deckung. Sonntag, 10.30 Uhr, rotes Fahrzeug von Ipkenswarft zu Hanswarft, das muss Siegfried sein auf dem Weg zum Frühschoppen. Wer Baudewig treffen will, macht sich jetzt ebenfalls auf den Weg zum Café „Seehund“. Dem Abgang auf der großen Bühne, der Landschaft, folgt der Auftritt auf der kleinen, der Warft. Die Häuser auf den Warften sind meist im Kreis gebaut, dicht gedrängt, rund um den Fething. Die Zuschauer sitzen hinter Fenstern und gucken – ganz beiläufig – wer und was draußen so läuft.

Wenigstens den Frühschoppen gibt es noch! Seit 30 Jahren sitzt Siegfried Baudewig auf dem gleichen Platz am Stammtisch. Das Sonntagsbier ist Ersatz für das, was fehlt. Früher, als Baudewig noch Kind war, hockten die Männer abends im Halbdunkel zusammen. Sie rauchten, sie schwiegen, und wenn sie redeten, lauschten die Kinder auf Schaffellen liegend den Geschichten der Alten. Früher, als eine andere Warft fast schon Ausland war, als es keine Straßen gab, dafür Boote, die auf den Prielen fuhren, früher existierte die Warftgemeinschaft noch. Aber heute? Heute besucht ihn keiner mehr einfach so, ihn, der einst 14 Ehrenämter innehatte und überall half beim Straßen- und Deichbau.

Baudewig, bald 80 Jahre alt, ist der Halligarchivar. Seit 20 Jahren sammelt er alte Zeitungsartikel, 25000 Dokumente hat er abgeheftet. Die Sensation, als 1959 Hallig Hooge ans Stromnetz angeschlossen wurde und die Hooger ein „Lichtfest“ feierten mit Gesang und Tanz. Und die noch größere Sensation, als 1970 das „Wasserfest“ folgte zu Ehren der neu gebauten Wasserleitung. Baudewig sammelt, „damit die alte Kultur nicht untergeht“. Doch nur die Journalisten wollen sein „Lebenswerk“ sehen. „Für die Hooger brauche ich das nicht zu machen“, sagt Baudewig. „Ich mache das für meine Heimat.“


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mare No. 50

No. 50Juni / Juli 2005

Von Sandra Schulz

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, wurde schon auf der Fähre als Fremde identifiziert. „Sind Sie die Reporterin?“, fragte eine ältere Dame am Nebentisch. Und so ging es auch auf der Hallig weiter. Wo immer sie hinkam: Sie kannte niemanden, aber alle kannten sie – aus Erzählungen von anderen Hoogern.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, wurde schon auf der Fähre als Fremde identifiziert. „Sind Sie die Reporterin?“, fragte eine ältere Dame am Nebentisch. Und so ging es auch auf der Hallig weiter. Wo immer sie hinkam: Sie kannte niemanden, aber alle kannten sie – aus Erzählungen von anderen Hoogern.
Person Von Sandra Schulz
Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Gesellschaft und Politik, wurde schon auf der Fähre als Fremde identifiziert. „Sind Sie die Reporterin?“, fragte eine ältere Dame am Nebentisch. Und so ging es auch auf der Hallig weiter. Wo immer sie hinkam: Sie kannte niemanden, aber alle kannten sie – aus Erzählungen von anderen Hoogern.
Person Von Sandra Schulz