Wir sind Helden

Ein Institut in Göttingen hütet einen besonderen Schatz: eine der weltweit größten Sammlungen lebender Algenkulturen. Sie sind bei Forscherinnen und Forschern in aller Welt gefragt

Der wertvollste Schatz der Menschheit liegt nicht etwa in Fort Knox, auch nicht in Südafrikas Goldminen oder den Erdölfeldern Saudi-Arabiens. Nein, er befindet sich ganz in der Nähe, ungefähr in der Mitte Deutschlands: in Göttingen.

Untergebracht ist er am Rand des Alten Botanischen Gartens in einem unscheinbaren Gebäude aus graubraunem Werkstein, an dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift „Albrecht-von-Haller-Institut für Pflanzenwissenschaften“ hängt. Der Weg zum Schatz führt durch eine Kulisse wie aus einem Frankenstein-Film, vorbei an Mikroskopen und Labor­vitrinen aus vergangenen Zeiten, ganz so, als habe jemand vergessen, sie nach Ende der Dreharbeiten wegzuräumen.

Man betritt einen Raum mit moderneren, waschmaschinengroßen Geräten, die monoton vor sich hinarbeiten, während zwei weißbekittelte Frauen mit ruhiger Hand Reagenzgläser bestücken. 

Eine Tür weiter, und auf einmal ist man da, in einem lehmverputzten Spezialraum, den alle hier „Kulturenraum“ nennen. Hier – und in weiteren Nebenräumen – lagert der Göttinger Schatz.

Grün, rot oder braun, wohin man auch schaut. Algen. Tausende von Algen.

So sieht sie also aus, die Göttinger Sammlung, die, neben zwei, drei anderen Institutionen, die größte Sammlung von lebenden Algenkulturen der Welt ist. Gut 2500 Algenstämme, die 550 Gattungen und 1450 Arten angehören, haben hier ein Zuhause gefunden, einquartiert in Tausenden Reagenzgläsern und Erlenmeyerkolben, jeder Stamm mit einer eigenen Nummer, die sich niemals ändert. 

Die meisten von ihnen sind Mikro­algen, beheimatet in Salz- oder Süßwasser, winzige Organismen, die einzeln nur unter dem Mikroskop zu erkennen sind. Teilen sich jedoch ihre Zellen, geben sie gemeinsam als Klone ihr prächtiges Farbenspiel für das bloße Auge preis. So als würden sie sich bedanken wollen für das gute Leben, das ihnen hier beschert wird.

Tatsächlich leben die Göttinger Mikroalgen wie in einem Spitzenhotel. Jede Art bekommt eigens für sie zusammengestellte Mahlzeiten, sogenannte Nährmedien. Sie gedeihen in perfekt austariertem Licht aus Leuchtstoffröhren, nicht zu schnell, nicht zu langsam, bei konstant 16, 18 oder 20 Grad Celsius Raumtemperatur, gerade so, dass es ihnen gut geht. Und falls sie doch erkranken, weil sich unerwünschte Keime in ihre Kultur eingeschlichen haben, sorgen Mitarbeiter für Abhilfe: Sie betten die nicht befallenen Teile der Algenkultur um in ein frisches Reagenzglas mit sauberem Nährmedium. „Überimpfen“ nennen sie das.

Es gibt hier nur eine Handvoll Mit­arbeiter. Doch jeder hütet den Algenschatz, als gehe es um seinen eigenen Nachwuchs. Sie wissen um die Bedeutung ihrer Arbeit. Wissenschaftler auf der ganzen Welt bestellen Proben aus Göttingen für ihre Forschung. Um vergleichende Studien durchführen zu können, braucht man identisches Ausgangsmaterial. Dieses Material lagert teilweise nur hier. Wird es zerstört, werden ganze Studien unbrauchbar. Man kann auch sagen: An den Göttinger Algen hängt, zumindest teilweise, das Schicksal der weltweiten Algenforschung. 

„Es ist eine große Verantwortung. Wir müssen immer extrem vorsichtig sein und darauf achten, dass niemals Kulturen durcheinanderkommen oder kontaminiert werden“, sagt Thomas Friedl. Als Leiter der Sammlung ist er so etwas wie der Herbergsvater der Algen. Jetzt sitzt er da, in seinem großzügigen Büro am Ende des Flurs, und wenn er aus dem Fenster schaut, hat er einen wunderbaren Blick auf den Botanischen Garten.

Professor Thomas Friedl, Jahrgang 1960, ist ein Mann der Forschung, gelernter Biologe, der nichts als Algen im Kopf hat. Schon als Schüler liebte er deren Schönheit und fuhr nach den Hausauf­gaben regelmäßig alle Tümpel in der Umgebung ab, am Stadtrand von München, um mit dem Planktonnetz Proben zu sammeln. „Dieser Moment, wenn man unter dem Mikroskop auf einmal Strukturen sah, die man vorher nicht sehen konnte: Das hat mich fasziniert.“ 

Das Mikroskop hatte er sich mühsam zusammengespart, ein Kursmikroskop von Leitz, ein „ganz einfaches, aber richtig gutes“. Er las Bücher wie „Der Kosmos- Algenführer“ oder „Das Leben im Wassertropfen“. Später besuchte er als junger Student sogar die Göttinger Algensammlung, deren Chef er später werden sollte. „Das war ein einschneidendes Erlebnis.“

Wer sonst als Thomas Friedl könnte also besser erklären, warum Algen wertvoller sind als Gold, Diamanten oder Öl? „Algen verdanken wir den Sauerstoff in jedem zweiten Atemzug“, sagt er. „Sie sind die wahren Superhelden.“

Er sagt es, und es ist keinesfalls eine Übertreibung. Es sind Sätze, die man in der Forschergemeinde immer wieder hört, in verschiedenen Varianten. Antje Boe­tius, Chefin des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, sagt sie. Thomas Brück, Algenprofessor an der Technischen Universität München, sagt sie. Und jeder von ihnen liefert Begründungen für seine Algenhuldigung.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 155. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 155

mare No. 155Dezember 2022 / Januar 2023

Von Jan Keith und Heidi und Hans-Jürgen Koch

Jan Keith, Jahrgang 1971, mare-Redakteur, erlebte in Göttingen auch das Meeresleuchten, erzeugt von Dino­flagel­laten. „Es war ein wunderschöner Anblick.“

Das erfahrene Fotografenduo Heidi und Hans-Jürgen Koch hatte Respekt davor, winzige Mikroalgen zu fotografieren. „Wir haben eigentlich kaum etwas gesehen.“

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