Willkommen, Frischlachstartar!

Schon vor 100 Jahren war das Schulauer Fährhaus vor den Toren Hamburgs ein beliebtes Ausflugslokal. Jetzt, nach 30 Jahren, hat sich das Traditionsunternehmen, berühmt für seine Schiffsbegrüßungsanlage, wieder einmal gehäutet

Seit 30 Jahren will mir mein Vater sein Lieblingslokal zeigen. Seit 30 Jahren klappt es nicht. Warum wir es nie dorthin geschafft haben, gehört zu den Seltsamkeiten des Lebens.

Noch seltsamer aber ist: Am Zweiten Weihnachtstag 2011 überraschen wir uns selbst und fahren tatsächlich hin, an den Ort, den Papa nie auslässt, wenn er auf Hamburg-Besuch ist: die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm-Höft im Schulauer Fährhaus. Sie liegt in Wedel, direkt an der Elbe, und ist das Tor zu Hamburg. Jedes Schiff, das auf dem Weg zum Hamburger Hafen das Fährhaus passiert, bekommt seine Nationalhymne vorgespielt. Es ist ein netter Gruß an die Schifffahrt, ein Stück Völkerverständigung in einer Welt voller Krisen und Kriege. Und obendrein kriegt man Kaffee und Kuchen.

Also rein. Drinnen ist es voll, mehrere hundert Gäste in zwei Räumen, Massengastronomie. Egal. Ein Tisch ist noch frei. Ich setze mich und betrachte den Sehnsuchtsort meines Vaters. Polsterstühle in Bordeaux, Teppichboden, beleibte Kellner mit dicken Portemonnaies. Als mein Vater auch noch Schwarzwälder Kirsch und Kännchen Kaffee bestellt, habe ich endgültig das Gefühl, wieder Kind zu sein. Die

1970er Jahre sind nie zu Ende gegangen, jedenfalls nicht im Schulauer Fährhaus und nicht bei meinem Vater. „Du, Papa“, sage ich und will ihm meine Gedanken mitteilen. Aber der ist schon aufgesprungen und ans Fenster gerannt.

„Da, ein Schiff!“, ruft er und winkt mich zu sich. Von rechts schippert ein Frachter heran. Aus den Boxen ertönt Musik. Eine Nationalhymne? Der Ton ist miserabel, die Melodie unmöglich zu erkennen. Diesen Missstand muss man mal dem Begrüßungskapitän mitteilen, denke ich. Der sitzt nämlich gleich im Nebenraum, in seiner Kabine, mit Mikrofon. Herrlich, wie der aus seinen 150 Kassetten immer die richtige Hymne heraussucht und über Baujahr und Herkunft des Schiffes referiert. Schade, dass man kein Wort versteht. Und schade, dass mittlerweile digitale Musikdateien zum Einsatz kommen, aber das erfahre ich erst später.

Nach drei Schiffen und drei nicht zu identifizierenden Hymnen lichtet sich das Lokal, draußen wird es dunkel. Als wir die Rechnung bestellen, bekommen wir mit, dass das Fährhaus dichtmacht. Für drei Monate. Warum?, fragen wir den Kellner, den man auch mit „Herr Ober“ ansprechen könnte, so vornehm tanzt er um die Tische. „Es gibt einen neuen Pächter“, sagt der. „Alles wird neu gemacht.“ Papa schaut entsetzt. „Und was passiert mit Ihnen?“ „Heute ist mein letzter Arbeitstag, nach 25 Jahren. Der neue Chef hat mich nicht wieder eingestellt.“ Auf dem Rückweg schweigen wir.

Drei Monate später, 1. April 2012. Heute ist Wiedereröffnung. Wie das neue Schulauer Fährhaus jetzt wohl aussieht? Ich will es wissen und fahre hin, auch meinem Vater zuliebe, der in Köln wohnt und nicht dabei sein kann. „Ruf mich an, wenn du da warst“, hat er gesagt.

Ich setze mich in die gleiche Ecke wie damals. Und fühle mich doch anders. Edler Holzboden statt Teppichboden, offene Küche, eine hauseigene Konditorei, verjüngte und verschlankte Kellner. Das Fährhaus ist in der Echtzeit angekommen. Die Preise auch. Ich bestelle mir für 14,50 Euro einen lauwarmen Spinatsalat mit gegrillten Scampi und Jakobsmuscheln. Er schmeckt fantastisch.

Überhaupt, die Speisekarte. Sie klingt wie die eines Gourmetrestaurants. „Carpaccio vom Holsteiner Rinderfilet in Trüffelmarinade“, „Frischlachstatar und gebeizter Dill-Limonen-Wildlachs“. Der neue Küchenchef heißt Franz Jost, 39 Jahre, und spricht von „raffinierten Kreationen“. Natürlich gebe es auch weiterhin Hamburger Pannfisch, versichert er. Auch der neue Pächter ist da, René Schillag, 37 Jahre alt. Ein smarter Machertyp, die neue Gastronomiegeneration.

Zum ersten Mal ist Willkomm-Höft nicht mehr in der Hand der Gründerfamilie. 1952 hatte Otto Friedrich Behnke die Anlage neben dem Wedeler Yachthafen eröffnet. Später übernahm sein Sohn Uwe und betrieb sie bis Ende 2011. Altersbedingt musste er aufhören, fand aber keinen Nachfolger in der Familie.

So ist aus dem familiären Betrieb ein modernes Gastronomieunternehmen geworden. Das Interieur, das Essen, der Service, alles neu. Unverändert ist nur das berühmte Ritual: das Ertönen der Nationalhymnen zur Begrüßung der Schiffe und Unterhaltung der Gäste, jetzt in bester Tonqualität. Die Begrüßungskapitäne sind die einzigen Mitarbeiter, die der neue Pächter übernommen hat.

Keine Frage, das neue Fährhaus ist schöner. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass man mir meine Kindheit wegrenoviert hat. Aber irgendwann muss man ja erwachsen werden. Das wird Papa nicht gerne hören.


Warmer Spinatsalat mit Scampi

Zutaten (für vier Personen) und Zubereitung
200 g Spinat blanchieren, mit 4 TL Sojasauce ablöschen, 8 Scampi und 4 Jakobsmuscheln braten. Spinat anrichten, 40 g Sprossen darübergeben, Scampi rechts und links platzieren. Jakobsmuscheln, 8 Ingwerchips und 8 Sesamhippen auf Sprossen anrichten und mit Sesamöl, Sojasauce, Salz, Kardamom abschmecken. 
Schulauer Fährhaus
Parnaßstraße 29, Wedel bei Hamburg;
Telefon 04103/92 00 0;
geöffnet täglich 11 bis 23 Uhr, bei Veranstaltungen „open end“; 
www.schulauer-faehrhaus.de

mare No. 92

No. 92Juni / Juli 2012

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

Mehr Informationen
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith